Einführung

Texte sind nicht immer schon da, sie entstehen: durch poetische Verfahren. Unabhängig von der Frage, wie sehr man einen bestimmten Text als literarisch oder poetisch in einem künstlerischen Sinne verstehen möchte, ist das Zustandekommen eines (beliebigen) Textes bereits von sich aus ‚poetisch‘ in dem Sinne, dass er jeweils – im Sinne der Poiesis (ποίησις) – auf eine spezifische Weise hervorgebracht wird: schreibend, kombinierend, in unterschiedlichen Weisen der Involvierung eines schreibenden Subjekts.

Poetische Verfahren bestimmen die Art, wie Texte hervorgebracht werden. Verfahren heißt, auf eine bestimmte Weise vorgehen. Jeder Schreibprozess setzt sich aus einer Kombination unterschiedlicher Schreibverfahren zusammen. Diese unterschiedlichen Schreibverfahren bringen unterschiedliche Arten der Welterschließung, der Fiktion, auch des Wissens hervor. Das hervorgebrachte literarische oder textuelle Wissen deckt sich allerdings nicht mit jenem, das in den poetischen Verfahren selbst als Verfahrenswissen zum Zuge kommt. Das Online-Lexikon poeticon.net versucht dieses Verfahrenswissen zu erörtern, zugänglich zu machen, zu reflektieren.

Im Hintergrund des ganzen Projektes steht die Frag, ob es möglich und weiterführend ist, Literarizität für einmal nicht einfach auf der Ebene von Texten – also der Ergebnisse von Schreibprozessen – zu behaupten, sondern für bestimmte Formen oder Komplikationen des Schreibens selbst anzunehmen. Literarisches Schreiben wäre demnach nicht einfach ein Schreiben, das im Ergebnis auf einen literarischen Text hinausläuft (wie auch immer man dessen Literarizität bestimmen möchte), sondern ein Schreiben, dessen Literarizität (so die probeweise Annahme) in der spezifischen Verlaufsform, Kombinatorik und Ereignishaftigkeit poetischer Verfahren selbst sowie der in ihnen wirksamen Konzepte situiert werden kann: durch eine Dominanz der jeweiligen Verfahrensqualität gegenüber ihrer etwaigen Mitteilungsfunktion.

Das Online-Lexikon poeticon.net versammelt Beiträge von a bis z mit Arbeitsdefinitionen, die den Prozess des literarischen Schreibens (in obigem Sinne) einerseits nach Verfahren, andererseits nach Konzepten zu erhellen versuchen.

Unter Verfahren werden diejenigen Tätigkeiten erörtert, die beim literarischen Schreiben zum Einsatz gelangen können. Da es sich hierbei um Prozesse handelt, sind die einzelnen Beiträge zu den poetischen Verfahren konsequent nach Verben, also Tätigkeitswörtern, geordnet. Ziel ist es, den Begriff der Poetik (wieder) für jene Verfahren stark zu machen, die im Prozess des Schreibens und also nicht erst oder allein im Geschriebenen oder schließlich Gedruckten am Werk sind.

Unter Konzepten werden Einträge versammelt, die man traditionellerweise als Grundbegriffe der Poetik bezeichnet und die man als entsprechende Substantive kennt. Hier jedoch geht es darum, den möglichen Stellenwert dieser Begriffe, die als literaturwissenschaftliche Fachtermini etabliert sind, für den Prozess des Schreibens zu bestimmen. Aus einer produktionsästhetischen Perspektive heraus gedacht, können diese Grundbegriffe sich als mögliche Anhaltspunkte für die spezifische Stoßrichtung eines Schreibprojektes erweisen.

Im Vordergrund steht in allen Beiträgen das produktionsästhetisch motivierte Interesse an der Poetik von Schreibprozessen. Diese bleibt in der Vielfalt der Verfahrensweisen zu entdecken und lässt sich auf die Poetik des schließlich Geschriebenen oder Gedruckten nicht reduzieren.

Das Online-Lexikon poeticon.net ist ein Work in Progress. Es wurde zuerst (zwischen 2008 und 2011) als Lehr- und Lernprojekt an der Universität Hildesheim entwickelt. Seit 2011 wird es an der Universität Zürich weitergeführt und weiterentwickelt. Die Struktur dieser Einträge besteht aus einer Mischform aus vorab festgelegten und fortlaufend erweiterbaren Anteilen. Damit reflektiert auch die Publikationsform des Online-Lexikons das Interesse an der Dynamik von Produktionsprozessen und ergebnisoffenen Arbeitsformen.