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Lesen bedeutet in Bezug auf das Schreiben, dass der im Entstehen begriffene Text von bereits bestehenden Texten beeinflusst wird, oder in einem technischen Sinn, dass ein Text nur mit Hilfe von Lesehandlungen überhaupt geschrieben werden kann.

Ein völlig voraussetzungsloses, vom Lesen losgelöstes Schreiben ist schwer denkbar, wenn nicht gar unmöglich. Aus diesem Grund muss, wenn von Schreibprozessen die Rede ist, das Lesen als integraler Bestandteil und als Bedingung der Möglichkeit des Schreibens mitgedacht werden.

Lektüreprozesse sind in zweierlei Hinsicht am Schreibprozess beteiligt.

Das Lesen von fremden Texten mag als Inspirations- oder Informationsquelle für das eigene Schreiben dienen, es kann mehr oder weniger extensiv, umfassend oder punktuell betrieben, von thematischen, formalen oder anderen Interessen geleitet sein und willkürlich gesteuert (suchend, recherchierend) oder zufällig erfolgen, wobei in den meisten Fällen von einer Kombination dieser Merkmale ausgegangen werden muss. Je nach Art des eigenen Schreibprojekts und der damit verbundenen Motivation für die Lektüre können Texte unterschiedlichster Textgattungen aus verschiedenen Epochen konsultiert werden. Das Lesen von fremden Texten kann als vorbereitende, sich einarbeitende Lektüre dem Schreiben vorgängig – als Sammeln im wörtlichen Sinn von lat. legere – erfolgen, wobei der zeitliche Abstand zwischen dem Lesen und Schreiben grösser oder geringer sein kann. Fremde Texte können aber auch parallel zum Schreiben gelesen werden und im Dienste eines weiteren Nachforschens stehen, das vom eigenen Schreibprojekt geleitet ist und dessen weitere Entwicklung beeinflusst. Das poetische Potential des Lesens von fremden Texten liegt entsprechend darin, Inspirationen oder Hintergrundinformationen für das Schreiben zu liefern, als Anknüpfungspunkt zu dienen, von dem aus es möglich wird, weiter zu denken und zu schreiben, oder sich kritisch davon abzusetzen. Als Folge einer lesenden Auseinandersetzung mit fremden Texten steht der neue Text in einem Dialog mit ihm vorangehenden Texten (Intertextualität).

Neben der Lektüre von fremden Texten ist das Lesen von eigenen Texten noch direkter am Schreibprozess beteiligt. Es kommt sowohl bei Texten, die dem Schreiben vorangehen und dieses fortlaufend unterstützen, als auch im Lesen des bereits zu Papier bzw. auf den Bildschirm Gebrachten, sowie im simultanen Lesen des soeben Geschriebenen zum Zug. Gemäss diesen drei Funktionen lässt sich das poetische Potential der Lektüre von eigenen Texten nach drei Gesichtspunkten unterscheiden. Im ersten Fall wird aus meist stichwortartigen Notizen, Exzerpten von und Anmerkungen in gelesenen fremden Texten oder Visualisierungen der Gedanken (z.B. in Form von Mindmaps) ein kohärenter, strukturierter Text hergestellt. Die Relektüre des bereits Geschriebenen erfüllt primär den Zweck, sich im eigenen im Entstehen begriffenen Text zu orientieren, um weiterschreiben zu können, evoziert aber oft Korrekturen, Ergänzungen, Reformulierungen oder Umstrukturierungen. Der dritte, eher technische Aspekt des Lesens (das simultane Verfolgen der Aneinanderreihung von Zeichen) ermöglicht erst das Schreiben und ist somit jedem Schreibverfahren inhärent. Das Ziel all dieser einander bedingenden Lese- und Schreibhandlungen liegt darin, einen Text herzustellen, der die an ihn gestellten Erwartungen erfüllt und der gelesen – und potentiell weitergeschrieben – werden will.

26. 02. 16 /// Bettina Rimensberger

→ Wegmarken ←

L. als Wiederaufnahme und Verbesserung eines bekannten Textes oder Stoffes: Mittelalterliche Helden- und Legendenliteratur, Artusepik, Antikenroman /// L. als Sammeln und Kompilieren von Zitaten und Textstellen: Centos, Florilegien /// kritisch reflektierendes L.: literarische Kritik /// erklärendes L.: Kommentar /// verzerrendes, verspottendes, imitierendes L.: Parodie /// übertragendes L.: Übersetzung /// L. und Schreiben im Austausch zwischen Autoren als Vorbereitung von Schreibprojekten: Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller über das Projekt Faust /// L. als poetisch produktives Kettenphänomen zwischen verschiedenen Autoren (Dichterduell): Heinrich von Kleist, Penthesilea (1808) – Johann Wolfgang von Goethe, Die wunderlichen Nachbarskinder in Die Wahlverwandschaften (1809); Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (1774) – Heinrich von Kleist, Der neuere (glücklichere) Werther (1811), entstanden als Reaktion auf Goethes Verunglimpfung von Kleists Penthesilea in Die wunderlichen Nachbarskinder /// L. als Motor für Nach-, Um- und Weiterdichtungen: Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (1774) – Wertheriaden /// L. als Basis für eine an der Oralität des Originals orientierte „Übersetzung“: Oskar Pastior, o du roher iasmin. 43 intonationen zu «harmonie du soir» von charles baudelaire (2002) /// L. als Montagetechnik: Poetisches Verfahren von Friederike Mayröcker (Inspiration durch gesammelte Zettel in einem Korb) /// (Viel-)Lesen als Inspirationsquelle: Zitieren und verdecktes Zitieren bei Robert Walser /// Wiederlesen eigener Texte, das eine Umarbeitung auslöst: Robert Walser, Mikrogrammentwürfe und Reinschriften; verschiedene Fassungen ‚desselben‘ Texts: Gottfried Keller, Der grüne Heinrich (erste Fassung 1854/55, neue, stark veränderte Ausgabe 1879/80) /// Wiederlesen und Weiterschreiben eigener Texte: Michel de Montaignes Arbeit an seinen Essais in Form unablässiger Revisionen

26. 02. 16 /// B.R.

← Forschungsliteratur →

Hans-Jost Frey, Der unendliche Text, Frankfurt am Main 1990; ders., Lesen und Schreiben, Basel/Weil am Rhein/Wien 1998; ders., „Lesen“, in: Jürg Berthold und Boris Previsic (Hg.), Texttreue. Komparatistische Studien zu einem masslosen Massstab (= Collection Variations, Vol. 9), Bern 2008, S. 209-213 /// Almuth Grésillon, „Lire pour écrire: Flaubert lector et scriptor“, in: Alfred Messerli und Roger Chartier (Hg.), Lesen und Schreiben in Europa 1500-1900. Vergleichende Perspektiven – Perspectives comparées – Perspettive comparate, Basel 2000, S. 593-208; dies., „Über die allmähliche Verfertigung der Texte beim Schreiben“, in: Sandro Zanetti (Hg.), Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012, S. 152-186; dies., „Literarische Schreibprozesse“, in: Kirsten Adamzik, Gerd Antos und Eva-Maria Jakobs (Hg.), Domänen- und kulturspezifisches Schreiben (= Textproduktion und Medium, Bd. 3), Frankfurt am Main u.a. 1997, S. 239-253, insb. S. 243-246 /// Olaf Kutzmutz und Stephan Porombka (Hg.), Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister (= Ästhetik des Schreibens, Bd. 1), München 2007 /// Otto Ludwig, „Lesen, um zu schreiben: ein schreibtheoretischer Aufriß“, in: Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti (Hg.), „Schreiben heißt: sich selber lesen“. Schreibszenen als Selbstlektüren (= Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 9), München 2008, S. 301-311 /// Peter Villwock, „Was stand in Gottfried Kellers Bibliothek?“, in: Roland Reuß, Wolfram Groddeck und Walter Morgenthaler (Hg.), Text.Kritische Beiträge, Heft 4, Frankfurt am Main 1998, S. 99-118

26. 02. 16 /// B.R.

↑ Postskriptum ↑

Die in den Wegmarken und in der Forschungsliteratur aufgeführten Beispiele für die Beteiligung der Lektüre am Schreiben stellen notgedrungen eine kleine subjektive Auswahl dar. Literatur ohne Lesen und Gelesen-Werden ist undenkbar. Texte evozieren unendlich viele verschiedene Lektüren, die sich, in welcher Form auch immer, in neuen Texten, die wiederum gelesen werden, niederschlagen können. Lesen und Schreiben sind in einer nicht abschliessbaren Folge miteinander verkettet. Auch wenn die Schreibprozessforschung (insb. die Critique génétique) und stoff- und motivgeschichtliche Untersuchungen bestrebt sind, möglichst alle an der Entstehung eines Textes beteiligten Lektüreprozesse nachzuvollziehen resp. sämtliche Einflüsse in einem Text aufzudecken, ist die vollständige Rekonstruktion dessen, was einen Autor bei der Konzeption und Niederschrift eines Textes inspiriert haben mag, ein illusorisches Unterfangen. Wohl mögen Recherchen im Nachlass eines Autors anhand von überlieferten Briefen, Notizen, Tagebucheinträgen und Ähnlichem sowie (soweit zugänglich) ein Blick in seine Bibliothek wertvolle Informationen zur Beschäftigung eines Autors mit Texten und Büchern preisgeben. Jedoch ist es unmöglich, die Lesebiographie eines Autors vollständig zu rekonstruieren, zumal er sich ihrer in ihrer Gesamtheit selbst kaum bewusst sein kann. Gerade wenn die Lektüre eines Textes weit zurückliegt, droht dieser in der Erinnerung zu verschwimmen. Der erinnerte Text, der in ein Schreibprojekt einfliessen mag, kann sich unter Umständen vom tatsächlich gelesenen Text stark unterscheiden. Ein Autor kann sich einen bestehenden Text gemäss seinen eigenen Vorstellungen und Zielsetzungen (bewusst oder unbewusst) aneignen.

Im Zusammenspiel von Lesen und Schreiben ist die vermeintliche Dichotomie von passiver Rezeption (Lesen) und aktiver Produktion (Schreiben) kritisch zu hinterfragen. Lektüren wirken als Katalysatoren und vermögen eine poetische Produktivität auszulösen.

Weitet man im Sinn von Roland Barthes den Begriff des Lesens aus, darf neben schriftlichen Texten auch die Kultur (die Kunst, Musik, Architektur, die Interaktion mit Menschen etc.) als dem Menschen stetig begegnende und ihn und seine Schreibprojekte unweigerlich beeinflussende Inspirationsquelle betrachtet werden (Roland Barthes, Die Machenschaften des Sinns in: Das semiologische Abenteuer [frz. Original 1985]). Ein solches interpretierend-analysierendes Schreiben über (Alltags-)Dinge und kulturelle Praktiken vollführte Roland Barthes bereits in seinen Mythen des Alltags (frz. Original 1957).

In Die Vorbereitung des Romans, die auf den Notizen einer am Collège de France in den Jahren 1978-1980 gehaltenen Vorlesung beruht, kontrastiert Roland Barthes das Lesen und das Schreiben: „Lesen ist eine metonymische, unersättliche Tätigkeit; man zieht nach und nach alle Bereiche der Kultur an sich heran; als führe man hinaus aufs offene Meer, überlässt man sich dem Imaginären der Kultur, dem Konzert, der Polyphonie der tausend Stimmen der anderen, denen ich die meinige beimische […].“ Das Schreiben hingegen hat seiner Meinung nach die Funktion, „das Ausbluten des Imaginären [aufzuhalten]“, wie „der Finger, der auf das Imaginäre der Kultur gelegt wird und es stoppt; das Schreiben ist gleichsam die Geste, welche die Kultur aufhält.“ (Roland Barthes, Die Vorbereitung des Roman, Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 2008, S. 381 f.) Um dieses Wechselbad von Überschäumen und Eindämmen, Losziehen und Innehalten, Entdecken, Verarbeiten und Weiterdenken selbst zu erfahren, gibt es nur Eines: selbst möglichst viel zu lesen und zu schreiben.

26. 02. 16 /// B.R.