redigieren

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Redigieren meint, einen Text zu überarbeiten und druckfertig zu machen. Damit ist es eine Art dialogischer Auseinandersetzung mit einem bereits vorhandenen Text und stets mit einer intensiven Lektüre verbunden. Das Verfahren bedient sich dabei benachbarter Techniken wie dem Korrigieren, Verbessern, Berichtigen, Ausfeilen, Vervollkommnen und Überarbeiten. Es besteht jedoch nicht in der bloßen Addition dieser Tätigkeiten, denn Ziel des Redigierens ist das Herausarbeiten des in einem Text vorhandenen Potentials.

Potential meint dabei die spezifische Eigenart und Stärke des Textes, seine sprachlichen Besonderheiten oder den Aufbau der Dramaturgie, die im Prozess des Redigierens zu schärfen sind. Es ist eine Suche nach dem Plan des Textes im Text selbst und eine anschließende Anwendung dieses Plans wiederum auf den Text. Über diese individuell auf jeden Text abgestimmte Arbeitsweise hinaus gibt es immer wiederkehrende Techniken, die beim Redigieren ihre Anwendung finden, wie zum Beispiel das Überprüfen einer immanenten Logik der einzelnen Handlungselemente. Dabei ist es nicht nur wichtig, sich auf das Potential des Textes einzulassen, sondern auch den Text im Detail zu erfassen und nachzuvollziehen. Redigieren als Verfahren ist immer ein Dialog auf Augenhöhe mit dem Text. Das poetische Potential liegt dabei im Erkennen des Textpotentials selbst, das im gelesenen Text vorhanden ist oder darin vermutet wird. Der externe Blick, der beim Redigieren eingesetzt wird, ist dabei das entscheidende Werkzeug. Dieser Blick bedarf eines Mischverhältnisses aus Distanz und Nähe, das es möglich macht, die individuelle Machart eines Textes zu erkennen und im folgenden Arbeitsprozess zu schärfen.

Dieses Mischverhältnis beschreibt auch die Tätigkeit, die beim Redigieren ausgeführt wird: Der Redigierende nimmt sich einerseits aufmerksam verfolgend zurück, um andererseits aktiv mäeutisch einzugreifen. Der Moment zwischen Lesen und Eingreifen ist der Moment, in dem das poetische Potential des Redigierens selbst spürbar wird. Das poetische Potential des Redigierens ist allerdings kein selbstgenügsames. Es kommt nicht darin zur Geltung, dass der Redigierende sich selbst mit seinen Ansichten und Meinungen einbringt, sondern darin, dass das Potential des gelesenen Textes freigelegt und aufgehellt wird. Diese Freilegung und Aufhellung geschieht in einem Spannungsverhältnis, in dem sich der Redigierende weder über den Text stellt, noch sich ihm unterordnet.

Auch wenn das Redigieren eine fertige Textfassung zum Ziel hat, ist es nicht zwangsläufig der letzte Schritt in einer linear verlaufenden Kette von Arbeitsabläufen. Vielmehr ist es häufig der Auslöser für einen zirkulär verlaufenden Arbeitsprozess, der einen Dialog auslöst und dem Text zu einer Akzentuierung der ihm eigenen Form verhilft.

05. 11. 09 /// Franziska Soehring

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R. im Kontext journalistischen Schreibens: Heinrich von Kleist, Berliner Abendblätter (1810) /// Die Anfänge des R.: Jakob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen (1812) /// R. eigener Aufzeichnungen als Teil des Schreibprozesses: Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise (1817) /// R. als negativer Eingriff: Elisabeth Förster-Nietzsches Herausgabe von Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht (1906) /// Probleme und Verdienste des R.s an der Entstehung und Veröffentlichung eines literarischen Werkes: Max Brods Herausgabe der Werke Franz Kafkas, Der Prozess (1925)

05. 11. 09 /// F.S.

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Clarissa Blomqvist, Über die allmähliche Veränderung der Nachricht beim Redigieren, Frankfurt am Main 2002 /// Ulla Fix, Redebewertung beim Lektorieren und Redigieren aus der Sicht des Linguisten, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1988 /// Melitta Gerhard, Die Redaktion der “Italienischen Reise” im Lichte von Goethes autobiographischem Gesamtwerk, in: dies., Leben im Gesetz. Fünf Goethe-Aufsätze, Bern/München 1966 /// Ivo Hajnal und Franco Item, Schreiben und Redigieren – auf den Punkt gebracht!, Frauenfeld/Stuttgart/Wien 2009 /// Sibylle Peters, Was ist „Redaction“?, in: Heinrich von Kleist und der Gebrauch von Zeit. Von der Machart der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003 /// Helmut Sembdner, Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion, Berlin 1939 /// Klaus Siblewski, Die diskreten Kritiker. Warum Lektoren schreiben – vorläufige Überlegungen zu einem Berufsbild, Aachen 2005 /// Ute Schneider, Der unsichtbare Zweite, Göttingen 2005

05. 11. 09 /// F.S.

↑ Postskriptum ↑

Der Begriff des Redigierens stammt aus der Redaktions- und Lektoratssprache und ist hier allein auf literarische Texte bezogen worden. Darüber hinaus gibt es auch ein handwerkliches Redigieren, das nach einem speziellen System funktionieren kann und damit zum Beispiel den internen Regeln einer Zeitung oder Zeitschrift oder eines Verlags folgt, beziehungsweise auf ein bestimmtes Publikum hin geschieht und beispielsweise den Aspekt der „Lesbarkeit“ berücksichtigt. Redigieren ist hier in Abgrenzung zum Lektorieren dargestellt und zwar in der Auffassung, dass beim Lektorieren der Akzent stärker auf dem Akt des Lesens liegt, beim Redigieren hingegen der Akt des Eingriffs im Vordergrund steht.

Der Akt des Eingriffs kann auch eine negative Wirkung auf den Text haben, die oben nicht angesprochen wurde. In diesem Fall vertritt der Bearbeitende nicht die Position des Textes, sondern die eines Dritten, zum Beispiel seine eigene. Ein Beispiel für die selbstmotivierte Redaktion sind die Eingriffe Elisabeth Förster-Nietzsches in die Texte ihres Bruders Friedrich Nietzsche vor deren Veröffentlichung. Die stark selektive Bearbeitung ließ ihre eigene nationalsozialistische Überzeugung in den Texten ihres Bruders hervortreten.

Zu den ersten Redakteuren im größeren Stil sind die Gebrüder Grimm zu rechnen, die als erste eine systematische und wissenschaftlichen Prinzipien verpflichtete Sammlung der sogenannten „Poesie des Volkes“ herstellten. In der Vorrede der Kassler Handexemplare der Kinder- und Hausmärchen heißt es: „Was die Weise betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen haben […]“ (aus: Kasseler Handexemplare mit zahlreichen Notizen und Ergänzungen von Jacob und Wilhelm Grimm. 2 Bände. Berlin 1812/1815. Zu finden unter www.grimms.de.) Dennoch: Jacob und Wilhelm Grimm haben die Texte stilistisch bearbeitet und ihrer Vorstellung von Volkspoesie gemäß umgeformt.

Die für die Veröffentlichung wichtige Aufgabe des Redigierenden zeigt sich in der Freundschaft zwischen Franz Kafka und dessen Verleger Max Brod. Kafka selbst verfügte, seine Schriften nach seinem Tod zu vernichten: „Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (Die paar Exemplare der ‘Betrachtung’ mögen bleiben, ich will niemandem die Mühe des Einstampfens machen, aber neu gedruckt darf nichts daraus werden.) Wenn ich sage, daß jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, daß ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.“ (Verfügung an Max Brod vom 29. November 1922. Max Brod zitiert Kafka im Nachwort zu Der Prozess, Fischer Verlag, 1986, S. 224). Statt dieser Anweisung nachzukommen, ließ er die Text Kafkas publizieren und machte sie in einigen Fällen auch druckfertig, indem er Fragmente ordnete und betitelte. Ob es sich dabei um ein „lesbar machen“ oder um eine Verfälschung handelt, bleibt eine offene Frage.

05. 11. 09 /// F.S.