sammeln

↓ sammeln ↓

Sammeln meint das wiederholte Zusammentragen verstreuter Elemente, die unter einem Gesichtspunkt vereinbar sind bzw. vereint werden. Um in einer Sammlung zusammengetragen zu werden, müssen die einzelnen Elemente sich in einer Hinsicht gleichen und dennoch voneinander unterscheidbar bleiben. Erst das Kriterium der Differenz macht etwas zu einem relevanten Bestandteil einer Sammlung.

Die Auswahl, was potenziell zur Sammlung gehört und was nicht, nimmt eine Einteilung der Wirklichkeit vor. Das Prinzip, nach dem die Auswahl erfolgt, muss jedoch nicht unbedingt im Voraus artikulierbar sein; es kann erst im Verlauf des Sammelns entstehen oder sich grundsätzlich ändern. Hierfür ist das Moment der Anschauung von Bedeutung: Durch das wiederholte Sichten kann die Sammlung auf den Sammelnden zurückwirken. Mit dem Sichten ist auch das Ordnen der Sammlung verbunden, allerdings können die Ordnungs­prinzipien nur temporäre Gültigkeit beanspruchen, da sich die Sammlung mit jedem hinzugefügten Teil verändert. So entwickelt jede Sammlung eine unberechenbare Eigendynamik und bleibt stets fragil. Wenn das vereinende Prinzip nicht mehr die gesamte Sammlung verbinden kann und an Gültigkeit verliert, droht sie auseinanderzufallen. Deshalb gehört das stän­dige Bemühen, die bereits bestehende Sammlung zusammenzuhalten, ebenso zum Sammelprozess wie das Sammeln selbst.

Eine Sammlung ist potenziell unabschließbar, da sie unendlich erweitert werden kann. Mit der Entscheidung für eine Publikation oder Ausstellung wird eine Zäsur im Sammelprozess gesetzt, die von einer zuvor nur temporären Ordnung Gültigkeit einfordert. Das Sammeln kann jedoch über den Zeitpunkt der Publikation hinweg fortgesetzt werden, indem das bereits gesammelte Material in eine neue Sammlung mit veränderten und sich ändernden Prinzipien eingeht.

Für den Schreibprozess sind zwei grundsätzliche Formen des Sammelns relevant: dastransitorische Sammeln und das konservierende Sammeln, wobei Mischformen beider Arten denkbar sind. Das transitorische Sammeln bildet im Schreibprozess nur ein Durchgangs­stadium. Gesammelt werden Dokumente und Gegenstände, die nicht in ihrem Sosein von Bedeutung sind, sondern als Inspiration oder Materialgrundlage für ein späteres Schreiben dienen. Das konservierende Sammeln hingegen will die einzelnen Elemente in ihrem Sosein bewahren, mit der Überzeugung, dass sich in das Wie ihrer Gestaltung die Orte und Zeiten eingeschrieben haben, aus denen sie ursprünglich stammen. So werden die Gegenstände zu Bedeutungs­trägern, die auf etwas verweisen, das nicht (mehr) da ist: Entlegene Orte und vergangene Zeiten werden durch die Sammlung an einem Ort zusammengebracht.

Durch das Zusammenkommen wird ein In-Bezug-Setzen der Einzelteile oder eine vergleichende Perspektive möglich. Die dennoch herrschende Unverbundenheit der einzelnen Bestandteile einer Sammlung bildet darüber hinaus ein sich ständig wandelndes Netzwerk an möglichen Bedeutungen.

18. 06. 10 /// Johanna Stapelfeldt

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S. als Bewahren oraler Kulturtechniken: Johann Gottfried Herder, Volkslieder. Nebst untermischten anderen Stücken (1778-1779); Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von Achim von Armin und Clemens Brentano (1806-1808); Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen (1812-1815); Peter Rühmkopf, Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund (1967) /// Der Sammler als literarische Figur: Honoré de Balzac, Vetter Pons (1847); Konstantin Waginow, Bambocciade (1931) /// S. als kulturwissenschaftliche Methode: Aby Warburg, Der Bilderatlas MNEMOSYNE (entst. 1924-1929) /// S. als Werkprinzip: Walter Benjamin, Das Passagen-Werk (insb. H [Der Sammler]) (entst. 1927-1940) /// S. als Erinnerungsarbeit: Walter Kempowski, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch (1993-2005)

18. 06. 10 /// J.S.

← Forschungsliteratur →

Jean Baudrillard, Die Sammlung, in: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a. M. 1991, S. 110-136 /// Wolfgang Schlüter, Walter Benjamin. Der Sammler & das geschlossene Kästchen, Darmstadt 1993 /// Werner Muensterberger, Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, Frankfurt a. M. 1999 /// Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt a. M. 2002 /// Karl Heinz Bittel, Beschreibung eines Kampfes. Über die Entstehung von Walter Kempowskis ‚Echolot’, in: Carla Ann Damiano, Jörg Drews und Doris Plöschberger (Hrsg.),„Was das nun wieder soll?“ Von ‚Im Block’ bis ‚Letzte Grüße’. Zu Leben und Werk Walter Kempowskis, Göttingen 2005, S. 137-149 /// Ilja Kabakow und Boris Groys, Müll, in: dies., Die Kunst des Fliehens. Dialoge über Angst, das heilige Weiß und den sowjetischen Müll, München 2007, S. 105-116 /// Boris Groys, Logik der Sammlung, München 2009

18. 06. 10 /// J.S.

↑ Postskriptum ↑

In der vorgenommenen Beschreibung des Sammelns als poetischem Verfahren bleibt die von Manfred Sommer als ökonomisch bezeichnete Form des Sammelns unberücksichtigt. Im Gegensatz zum ästhetischen Sammeln, wenn man sich an Sommers Terminologie hält, ist beim ökonomischen Sammeln das Kriterium der Differenz irrelevant. Da es in dieser Form nur um die Anhäufung gleicher Dinge und deren Verwertung geht, so Sommer, steht nicht die Ästhetik des Bewahrens im Vordergrund, sondern die Ökonomie des Verschwindens (Sommer 2002).

Ich bin allerdings der Ansicht, dass alle für den Schreibprozess relevanten Formen des Sammelns auf das ästhetische Sammeln als Grundform zurückgehen, auch wenn in dem oben verfassten Artikel eine Trennung zwischen transitorischem und konservierendem Sammeln forciert wurde. Auch für das von mir benannte transitorische Sammeln ist einerseits das Kriterium der Differenz von Bedeutung, andererseits ist auch hier in den meisten Fällen eine bewahrende Absicht zu unterstellen. Der Unterschied zum konservierenden Sammeln ist dann eher in der Form des Bewahrens zu suchen. Denn während die Sammlung als Materialgrundlage für einen späteren Schreibprozess nicht in der jeweils geschlossenen Form der einzelnen Elemente wirksam wird, geht es beim konservierenden Sammeln, wie bereits erwähnt, darum die Dinge in ihrem Sosein zu belassen.

Die etwas umständlich wirkende Bezeichnung „Elemente“ versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass nicht nur Gegenstände Bestandteil einer Sammlung werden können, sondern auch Bilder und Texte, deren Bedeutung nicht auf einen materiellen Träger zurückzuführen ist, sondern auf ihren „Inhalt“. Dieser Umstand ist vor allem für die mediale Übertragung des Verfahrens wichtig. Denn Elemente an einem Ort zusammenzutragen kann auch heißen, durch das Internet zu surfen, Sätze zu kopieren und in einem Order oder einer Word-Datei zusammenzustellen.

18. 06. 10 /// J.S.