↓ übersetzen ↓
Einen Text übersetzen meint, diesen in einer anderen Sprache wiederzugeben. Ein Sprachsystem kann unterschiedlich stark von einem anderen abweichen: auf der Ebene der Wortbedeutung, des Vokabulars, der Grammatik, des Schriftsystems und dessen Verhältnis zur Aussprache. Je mehr sich eine Sprache in den erwähnten Bestandteilen von einer anderen unterscheidet, desto schwieriger wird es sein, den Originaltext ohne Abweichungen zu übersetzen. Grundsätzlich gibt es zwei Wege mit dieser generellen Unübersetzbarkeit eines Textes umzugehen: den einer kommunikativen und den einer literarischen Übersetzung. Unabhängig davon, welcher der beiden Wege gewählt wird, setzt das übersetzende Schreiben eine eingehende Lektüre des Originaltextes voraus. Die Schreibbewegung des Übersetzenden steht somit stets in direktem Bezug zu einem bestehenden Text.
Die kommunikative Übersetzung sucht Möglichkeiten, die Unübersetzbarkeit zu umgehen, indem sie den Originaltext in Denkbilder überträgt und diese an die Logik und Funktionsweise der Zielsprache anpasst: für Redewendungen und gängige Metaphern werden Entsprechungen gesucht, Tonfall und rhetorische Mittel werden nach Möglichkeit in die Zielsprache übertragen. Der Text wird für eine neue Sprache zugänglich und verständlich gemacht um den Preis einer Verdrängung des Sprach- und Denksystems des Originaltextes.
Die literarische Übersetzung hingegen geht von der Unübersetzbarkeit eines Textes aus und setzt den Fokus auf sprachliche Besonderheiten des Originals: Es können Elemente des Textes (ein auffälliger Satzbau, ein prägnantes Schriftbild, eine markante Klangstruktur, eine bestimmte Mundart) in die Zielsprache übernommen werden, auch wenn sie deren Sprachsystem widersprechen. Das Ziel einer literarischen Übersetzung ist nicht, den Originaltext möglichst lückenlos in der Logik der Zielsprache abzubilden, sondern einer bestimmten sprachlichen Eigenart des Originals eine neue Präsenz in der Zielsprache zu gewähren. Das Sprachsystem des Originaltextes kann in die Zielsprache hineinwirken, ihre Regeln und Normen hinterfragen und in Bewegung bringen. Die dabei entstehenden Verschiebungen innerhalb der Zielsprache machen die Anwesenheit eines fremden Sprach- und Denksystems spürbar, bewährte Ästhetiken und Sprechweisen werden infrage gestellt, der Text kann eine neue literarische Form und Wirkkraft entfalten. Diese vielleicht ungewohnte neue Form kann derart irritieren, dass ein bestimmter Aspekt des Originals erst in der Übersetzung auffällt und sichtbar wird.
26. 07. 09 /// Johanna Stapelfeldt
→ Wegmarken ←
Wörtliches Ü. als biblische Exegese (427): Augustinus von Hippo, De doctrina christiana /// Unübersetzbarkeit (1704): Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais /// Umöglichkeit und Notwendigkeit des Ü.s (1816): Wilhelm von Humboldt, Einleitung zu Aeschylos Agamemnon metrisch übersetzt von Wilhelm von Humboldt /// Verfremdendes Ü. (1816): Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens /// Interkulturelles Ü. (1826): August Wilhelm Schlegel, Indische Bibliothek /// Formbetontes Ü. (1923): Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers /// Ü. als Technik (1946): Hermann Broch, Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens /// Ü. und Dekonstruktion (1987): Jacques Derrida, Des Tours de Babel /// Ü. als poetisches Verfahren (1996): Yoko Tawada, Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch /// Ü. als Praxis (2006): Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten
26. 07. 09 /// J.S.
← Forschungsliteratur →
Theresia Prammer, Übersetzen – Überschreiben – Einverleiben. Verlaufsformen poetischer Rede, Wien 2009 /// Gabriele Leupold, In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst, Göttingen 2008 /// Radegundis Stolze, Übersetzungstheorien, Tübingen 2008 /// Hartmut Böhme, Christof Rapp und Wolfgang Rösler (Hrsg.), Übersetzung und Transformation. Transformationen der Antike, Berlin 2007 /// Friedmar Apel, Literarische Übersetzung, Stuttgart 2003 /// Rainer Nägele, Über-setzen – Lesen zwischen Texten, Basel 2002 /// Reinhold Görling, Heterotopia. Lektüren einer interkulturellen Literaturwissenschaft, München 1997 /// Alfred Hirsch, Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt am Main 1997 /// Wilhelm Gössmann, Schreiben und Übersetzen. „Theorie allenfalls als Versuch einer Rechenschaft”, Tübingen 1994 /// Hans Joachim Störig, Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 1973 /// Fred Lönker, Die literarische Übersetzung als Medium der Fremderfahrung, Berlin 1992
26. 07. 09 /// J.S.
↑ Postskriptum ↑
Das übersetzende Schreiben wurde und wird in unterschiedlichen Disziplinen mit verschiedenen Voraussetzungen und Absichten untersucht und beschrieben; ob in der Philosophie, der Linguistik, der Semiotik, den Kognitions- oder Literaturwissenschaften, an Übersetzungstheorien mangelt es nicht. Ansätze, die bemüht sind die übersetzerische Tätigkeit als poetisches Schreibverfahren zu beschreiben sind hingegen eher rar. Um das poetische Potential der übersetzerischen Tätigkeit herauszustellen wurde ein Fokus auf das literarische Übersetzen gelegt, das weniger als das technische Übersetzen auf verständliche Texte zielt als vielmehr darauf, dem Text eine literarische Wirksamkeit zukommen zu lassen. Da allerdings die Übersetzung eines Textes immer auch ein gesellschaftlicher Akt ist, sind häufig Kompromisse notwendig, der Text muss bis zu einem gewissen Grad verständlich sein; dazu sind Mischformen kommunikativer und literarischer Übersetzung denkbar.
Übersetzen lässt sich als zwischensprachliche ebenso wie als innersprachliches Auslegen verstehen, auch das Übersetzen in ein anderes Zeichensystem, etwa von Musik in Sprache, kann gemeint sein; in dem vorliegenden Artikel wurde hingegen ausschließlich die zwischensprachliche Übersetzung beschrieben. Es mag jedoch möglich sein den hier entwickelten Ansatz auf andere Anwendungen des Übersetzungsbegriffs zu übertragen. Die weitgehende Kenntnis beider Sprachsysteme kann Voraussetzung für die übersetzerische Tätigkeit sein; es sind jedoch Verfahren vorstellbar, die gerade das Nicht-Verstehen einer Sprache nutzen, um produktive Verschiebungen zu erzeugen. Häufig sind in einer Übersetzung nicht nur zwischensprachliche Differenzen zu überwinden, sondern auch kulturelle und zeitliche. Auch diese Brüche können kommunikativ übertragen und unsichtbar gemacht werden oder eben literarisch wirksam übersetzt werden. Selbstredend kann dem hier als kommunikativ benannten Übersetzen ebenso ein poetisches Potenzial zugeschrieben werden wie dem literarischen.
26. 07. 09 /// J.S.