weitersagen

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„Weitersagen“ bezeichnet eine Kulturtechnik der Rede: Die Rede nimmt auf eine andere Rede Bezug, indem sie diese anführt und mit sprachlichen Mitteln markiert, dass sie eine andere Rede anführt. Weitersagen kann als ein allgemeines Verfahren begriffen werden, das mittels der Redeanführung einen Rohstoff herstellt, der von den Kräften eines sprachlichen Gefüges insgesamt erfasst und zu spezifischeren Verfahren ausgeformt wird. Es gibt keine allgemeinen Regeln, wie im Einzelfall von einer Rede auf die angeführte Rede zu schließen ist. Das Weitersagen gebraucht häufig die indirekte Rede und vermischt narrativen (erzählenden) und performativen (handelnden) Modus der Rede. Wenn ein verbum dicendi den Sprechakt einleitet, überträgt es seine performative Funktion auf das gesamte Gefüge des Satzes: Weder sind dann die Funktionen der Redewiedergabe und der Redeinszenierung klar zu trennen, noch lassen sich konstative und performative Anteile der Rede, Sagen und Tun, Feststellung und Handlung, eindeutig scheiden.

Die indirekte Rede vermag Semantik und Referenz der Sprache einzutrüben und sogar in systematische Unbestimmtheit zu verstricken. Die grammatischen Regeln, wie eine direkte in die indirekte Rede zu transformieren sei, sind weniger wegen ihres normativen Gehalts fragwürdig, sondern weil sie über die grundlegende Dissymmetrie von direkter und indirekter Rede hinwegtäuschen. Jeder Hörer oder Leser muss den Schluss, wie von der indirekten auf die angeführte Rede zu schließen sei, für sich selbst vollziehen. Weil aber jeder Versuch einer Rekonstruktion der Rede, die der indirekten zugrunde liegt, die Umstände, in denen eine Äußerung ergangen ist, in Betracht ziehen, die Einstellung des Sprechers erschließen und die Kontexte berücksichtigen muss, eröffnet das Weitersagen ein Spiel mit der Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung, Wissen und Nicht-Wissen, Gesagtem und Nichtgesagtem. Insofern ist das Weitersagen etwa für die Techniken des Fingierens und Dokumentierens, die sprachliche Konstitution von Subjektivität bzw. Figurengestaltung, für die Darstellung sozialer Beziehungen oder auch die performative Gestaltung von Texten von Interesse.

In der Schreibpraxis sind neben der Verwendung bedeutungsgleicher Ausdrücke und semantischer Äquivalente vor allem die Gestaltung von Kontexten entscheidend für die Ausschöpfung des Potentials, das im Weitersagen steckt: Wer etwas weitersagt, verkompliziert die Beziehungen zwischen der Äußerung und ihrer Produktionsinstanz, indem er in seine Rede eine zweite sendende Instanz einträgt und somit eine Nahtstelle von Sprache, Diskurs und Machtverhältnissen kenntlich macht. Die Schreibpraxis vermag im Weitersagen zugleich zu thematisieren, welche performativen Kräfte auf das Sagen und das Weitergesagte einwirken, welches Übertragungsgeschehen in einer Rede stattfindet und welche Störungen die Mitteilung befallen. In solch einem Schreiben, das die Bedingungen und Regeln problematisiert, unter denen etwas weitergesagt wird, verliert die (mündliche) Rede ihre selbstverständliche Modellfunktion für das Weitersagen: Im Schreiben wird das Weitersagen zu einem Übertragungsgeschehen zwischen verschiedenen Medien.

17. 04. 09 /// Armin Schäfer

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W. als oratio obliqua (antike Rhetorik): Quintilian, Institutio oratoria X,7 /// W. als erste Sprachfunktion: Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, aus dem Französischen von Gabrielle Ricke und Ronald Voullé, Berlin 1992 /// W. in der Sprechakttheorie: John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things With Words), deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, 2. Auflage Stuttgart 1998; John Searle, „Indirect Speech Acts“, in: Peter Cole, Jerry L. Morgan (Hrsg.), Syntax and Semantics. Volume 3: Speech Acts, New York 1975, S. 59-82 /// zur Unterscheidung von Sinn und Bedeutung in der angeführten Rede: Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung, Göttingen 2002, S. 23-46 /// zur Logik der Anführung: Willard Van Orman Quine, Wort und Gegenstand (Word and Object), aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Dieter Birnbacher, Stuttgart 1993; Donald Davidson, Wahrheit und Interpretation, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1990 /// zur Logik des W.: Gilles Deleuze, Logik des Sinns, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, Frankfurt am Main 1993; Michel Serres, Der Parasit, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 1987 /// zur Zeitenfolge in der Redewiedergabe: Otto Behaghel, Die Zeitfolge der abhängigen Rede im Deutschen, Paderborn 1878 /// zur Literaturgeschichte des W. und Zitierens: Antonine Compagnon, La seconde main ou le travail de la citation, Paris: 1979 /// zum style indirect: Valentin N. Vološinov, Marxismus und Sprachwissenschaft. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, hrsg. und eingeleitet von Samuel M. Weber, Frankfurt am Main, Berlin, Wien: 1975; Pier Paolo Pasoloni, Ketzererfahrungen. „Empirismo eretico“. Schriften zu Sprache Literatur und Film, München, Wien: 1970 /// W. als Verkettung von Diskursarten: Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, aus dem Französischen von Joseph Vogl, München: 1987 /// W. als Sozialtechnik: Jürgen Brockhoff et al. (Hrsg.), Die Kommunikation der Gerüchte, Göttingen 2008 /// W. als Technik der Subversion: Judith Butler, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén, mit einem NachWort von Bettine Menke, Frankfurt am Main 2001

17. 04. 09 /// A.S.

← Forschungsliteratur →

Daniel Baudot (Hrsg.), Redewiedergabe, Redeerwähnung: Formen und Funktionen des Zitierens und Reformulierens im Text, Tübingen 2002 /// Marlies Becher, Der Konjunktiv der indirekten Redewiedergabe. Eine linguistische Analyse der Skizze eines Verunglückten von Uwe Johnson, Hildesheim 1989 /// Elke Brendel u.a. (Hrsg.), Zitat und Bedeutung. Linguistische Berichte. Sonderheft 15, Hamburg 2007 /// Daniel E. Collins, Reanimated Voices: Speech reporting in a histoical-pragamtic perspective, Amsterdam 2001 /// Florian Coulmas (Hrsg.), Direct and Indirect Speech, Berlin, New York, Amsterdam 1986 /// Nicole Fernandez-Bravo, „Geschichte der indirekten Rede im Deutschen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, in: Deutsche Sprache 2 (1980), S. 97-132 /// Andres Gather, Formen referierter Rede. Eine Beschreibung kognitiver, grammatischer, pragmatischer und außerlinguistischer Aspekte, Frankfurt am Main [u.a.] 1994 /// Manfred Harth, Anführung. Ein nicht-sprachliches Mittel der Sprache, Paderborn 2002 /// Elizabeth Holt (Hrsg.), Reporting talk: reported speech in interaction, Cambridge [u.a.] 2007 /// John Lucy (Hrsg.), Reflexive Language. Reported Speech and Metapragmatics, Cambridge [u.a.] 1993 /// François Recanati, Oratio Oliqua, Oratio Recta. An Essay on Metarepresentation, Cambridge (Mass.), London 2000 /// Jakob Steinbrenner, Zeichen über Zeichen. Grundlagen einer Theorie der Metabezugnahme, Heidelberg 2004 /// Eric Weidner, Konjunktiv und indirekte Rede. Subjonctif et style indirect, Göppingen 1992 /// http://www.zitatundbedeutung.uni-mainz.de (letzter Aufruf am 28.12.2008)

17. 04. 09 /// A.S.

↑ Postskriptum ↑

Der Terminus Weitersagen ist eine Sammelbezeichnung, die aus der Alltagssprache stammt, sich aber nicht als eigenständiger Begriff in Rhetorik, Linguistik oder Literaturwissenschaften etablieren konnte. Die Rhetorik beschreibt das Weitersagen als oratio obliqua, die Linguistik als indirekte Rede und die Literaturwissenschaft als style indirect oder als transponierte Rede.

Die Verfahren, die beim Weitersagen verwendet werden, können unter rhetorischen, poetologischen, text- und sprechakttheoretischen oder soziologischen Gesichtspunkten auch als Zitieren, Paraphrasieren, Nacherzählen, Bezeugen, Klatschen, Gerüchte verbreiten usw. beschrieben werden.

Die Forschung zu der hier unter der Sammelbezeichnung „Weitersagen“ gefaßten Kulturtechnik der Redeanführung ist u.a. in Philosophie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie verstreut. In der oben angeführten Forschung sind weniger Anleitungen für die Schreibpraxis zu finden als vielmehr Analysen spezifischer Techniken und Beispiele des Weitersagens sowie der hierdurch hervorgebrachten Effekte.

Die unter den „Wegmarken“ genannten Arbeiten formulieren zentrale Positionen, die für eine weitere Auseinandersetzung von besonderem Interesse sind. Insofern sie die Redeanführung in einem dichten Gefüge von sprachlichen und nicht sprachlichen Kräften situieren, zeigen sie ein Potential des Weitersagens auf, aus dem die Schreibpraxis schöpfen kann.

Die Anführung der Rede ermöglicht ein Spiel mit der Kommunikationssituation, mit der Semantik und Referenz sowie der Handlungsdimension und Inszenierung, und sie verleiht hierdurch der Sprache eine (zusätzliche) Wirkmacht, die weit ins Soziale und Politische hineinreicht: Das Weitersagen ist eine eigenständige Handlung, die mehr und anderes ist als die Erwähnung oder der Gebrauch einer vorgängigen Rede. Während das Zitat als die strengste Form der Anführung, weil es einen Quellenbeleg erbringen können muß, in seiner modernen Form – mit Markierung durch Anführungszeichen – eine vergleichsweise junge Erfindung ist, die aus dem 16. Jahrhundert stammt, kann das Weitersagen als eine primäre Sprachfunktion begriffen werden: Die Rede ist immer schon in eine Zirkulation geworfen, die verschiedenen Medien durchläuft und von ihnen angetrieben wird.

Das Weitersagen zieht die Rede insgesamt auf das Gebiet der Zeitlichkeit und unterstellt gerade Aussagen, die einen Anspruch auf Wahrheit enthalten, der Zeitlichkeit von Wahrheitsbedingungen. Der Begründer der modernen Zeitlogik, Alfred N. Prior, war einer der wichtigsten Theoretiker der Anführung. Er kann Folgendes zeigen: Wenn die Rede, die eine Aussage trifft, zwangsläufig einen Anspruch auf Wahrheit formuliert, insofern sie dem Prinzip der Bivalenz untersteht, wird die Rede, die eine andere anführt, in ein Spiel mit den Zeitlichkeitsbedingungen der Wahrheit hineingezogen.

Das Weitersagen wurde vielfach als eine Rede aufgefaßt, die sich unnötigerweise einer Gefährdung aussetze: Jedenfalls sei es besser mit eigener Stimme zu sprechen oder zu zitieren als etwas weiterzusagen. Das Weitersagen, so fürchtet Martin Heidegger, kann das in einer Aussage aufgezeigte wieder verhüllen: Es führt in die Sphäre des Man, des Geredes und Geschreibes und nicht zuletzt des Gerüchts.

Sobald das Weitersagen aber in das Zitat einbiegt, sei es, wie Michel Serres einmal spöttisch bemerkt, wieder auf dem sicheren Kurs in den Hafen der Bibliothek oder des Archivs, der Belege, der Autorität und der juristischen Regelungen. Jetzt kann die Aussage wieder zu ihrer vermeintlichen Quelle zurückverfolgt werden. Sobald man aber anfängt, die Kräfte der Mitteilung auf die Rede wirken zu lassen und sie dem parasitären Spiel der Medien zu überlassen, sind selbst die Anführungszeichen keine verläßliche Schmutzmacht mehr.

>Der Verdacht gegen das Weitersagen richtet sich also gegen eine Rede, die sich leichtfertig dem parasitären Spiel der Medien ausliefere und eine Komplizenschaft mit den Kräften der Mitteilung unterhalte. Denn das Weitersagen kann von der Anführung den Verweis auf den Sender abziehen und opake Kontexte herstellen, die weder eine Identifikation des Senders noch den Rückschluß auf die direkte Rede erlauben. Die Regeln des Duden, wie die direkte Rede in die indirekte zu verwandeln sei, sind nicht allein fragwürdig hinsichtlich ihres normativen Gehalts und von begrenzter Reichweite, sondern täuschen auch über die grundlegende Dissymmetrie von direkter und indirekter Rede hinweg.

17. 04. 09 /// A.S.