auslöschen

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Auslöschen heißt, Schrift beseitigen, oder im übertragenen Sinne, etwas endgültig entfernen, abschaffen, vernichten. Die zwei Bedeutungen gelten sowohl für den alltäglichen als auch für den poetologischen Gebrauch des Wortes. In der Alltagsprache bezieht sich das Auslöschen entweder auf eine Person, eine Personengruppe oder eine ganze Kultur. Oder es bezieht sich auf einen Sachverhalt oder einen Strukturzusammenhang wie den von Gedächtnis oder Erinnerung. Auslöschungsprozesse vollziehen sich meistens durch Gewaltmaßnahmen, die bis zu Massenzerstörungen hinreichen können. Die Gewaltdimension von Auslöschungen bleibt auch im künstlerischen Bereich bewahrt, wo sie im Abschaffen bzw. in der Tendenz zum Abschaffen eines bestimmten Inhalts oder einer bestimmten Form oder Materie im jeweiligen Schaffensprozess besteht. Je nach Art des auslöschenden Eingriffs kann das Abschaffen auf strikt poietischer, poetischer oder poetisch-poietischer Ebene des künstlerischen Schaffens erfolgen. Die poietische Ebene meint die Ebene der materiellen und technischen Hervorbringung eines Werkes oder eines literarischen/künstlerischen Ereignisses, die poetische die der erzeugten strukturellen Wirklichkeit oder Unwirklichkeit innerhalb eines Werkes oder Werk­ereignisses. Die poetisch-poietische Ebene bedeutet schließlich die Verschränkung beider Bereiche.

Auf poietischer Ebene meint das Verfahren der Auslöschung das faktische Reduzieren des künstlerischen Stoffes, etwa der Schrift als graphisches Material, auf manchmal zusammen­hangslose Komponenten bis hin zur totalen Destruktion der Vorlage. Durch die Verwertung von mehr oder weniger radikalen Reduktionsmitteln wie Ausradierungen, Tilgungen, Löschungen entsteht ein Werk, das sich als produktive Summe aus dem Rest des Reduktionsverfahrens und der Spur der reduzierten Komponenten darbietet. Möglich ist auch die Durchführung eines extremen Reduktionsverfahrens wie das der Verbrennung oder Sprengung in verschiedenen performativen Kunstformen.

Auf poetischer Ebene geht es um das Demontieren bestimmter Kategorien des literarischen/​künstlerischen Schaffens, die aus konzeptuellen Gründen als unhaltbar und daher verwerfens­wert eingeschätzt werden. Als Gegenstände der Demontage können gelten: die Wirklichkeit, die Geschichte, die Tradition, die Referenzen schlechthin, die Autorschaft, die Philosophie, die Ideologie, die Figuren, der Ausdrucksmodus, die erzählerischen Zusammenhänge, schließlich kanonische Werke oder eigene Werke. Durch Minimalisierung, Entleerung, Zerspiegelung, extreme Perspektivierung, Protokollierung, Essayismus, restlose Kritik, aggressive Über­arbeitung usw. werden die ‚Hass‘-Objekte in dem betreffenden Werk auseinander genommen und bis zur Auflösung negiert.

Auf poetisch-poietischer Ebene bezeichnet Auslöschen das Unterwandern des Werk-Körpers selbst, etwa des Schriftkörpers durch technische Mittel wie: spiralartiger Satzbau, Wieder­holungen verschiedener Einheiten, klaustrophobische Baustruktur des Textes u.a. Die negierende Dynamik des Werks geht in diesem Fall über die abstrakte Logik der poetischen Prinzipien hinaus auf die konkrete Logik der Körperlichkeit. Indem das Werk einen Körper entwickelt, der mit seiner Progression paradoxerweise zusammenschrumpft und umgekehrt gerade durch seine kontinuierliche Regression heranwächst, funktioniert das betreffende Werk nicht nur in gewaltsamer Auseinandersetzung mit verschiedenen Kategorien des Schaffens, sondern vielmehr gegen sich selbst als gerade diesen Körper.

Als ausschlaggebende Kriterien für die Beschreibung des Auslöschens als poetisches Verfahren fungieren demgemäß zwei Hauptoppositionen: materiell/strukturell (poietisch/poetisch) und transitiv/reflexiv (poetisch/poetisch-poietisch). Egal nach welchen Kriterien man Auslöschen als Prozess definieren möchte, im Grunde genommen handelt es sich stets um ein aporetisches Verfahren, da eine restlose Auslöschung unmöglich ist. Auslöschungen produzieren stets einen Rest, der materiell oder thematisch auf das Verfahren zurückwirkt, sofern es als Verfahren noch erkennbar bleibt. Das Begehren, etwas auszulöschen, produziert mithin – für Außenstehende – das Objekt der Auslöschung erst: als Thema eines Textes zum Beispiel. Je stärker dieses Begehren sich artikuliert, desto stärker wird es in eine Bewegung der Verschiebung hineingerissen: vom Objekt zum Thema bis hin zur Artikulationsform des Begehrens selbst. Das produktive Potential des Auslöschens entfaltet sich dort, wo die Unmöglichkeit einer restlosen Auslöschung selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird, d.h. zum Anlass, den Verschiebungen nachzugehen, die aus der Unmöglichkeit einer vollständigen Auslöschung resultieren.

14. 10. 09 /// Alina Voica

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A. als Verschwinden der Schrift im Körper: Franz Kafka, In der Strafkolonie (1919) /// A. als graphische Desartikulation: Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924-1925 /// A. als agonales Verhalten in der historischen Avantgarde /// A. als Zerfall der Sprache, beispielsweise im Werk von Samuel Beckett /// A. als Negation der Referenzen im Nouveau Roman /// A. als Verschwinden des Selbst in der Sprache: Maurice Blanchot, L’espace littéraire (1955), Le livre à venir (1959) /// A. als Zerstörung von Kulturgegenständen im Nouveau Réalisme (60er Jahre) /// A. als ‚auto-destructive art‘: Gustav Metzger, Manifest der autodestruktiven Kunst (1960), Destruction in Art Symposium (London, 1966) /// A. als Selbstverstümmelung im Wiener Aktionismus (60er und 70er Jahre) /// A. als „Ruinisierung von Gegenständen“ (Jean Baudrillard) in Happenings /// A. als Verschwinden des Autors: Michel Foucault, Qu’est qu’un auteur (1969) /// A. als „effacement des différances“ in der Dekonstruktion: Jacques Derrida, L’écriture et la différence (1967), De la grammatologie (1967) /// A. als Demontage fremder Werke in der ‚Postmoderne‘ /// A. als werkimmanentes Schreibprogramm: Thomas Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall (1986) /// A. als Tippex-Verfahren: Uljana Wolf & Christian Hawkey, Buchobjekt. SONNE FROM ORT. Erasures (2008)

14. 10. 09 /// A.V.

← Forschungsliteratur →

Sebastian Baden (Hrsg.), Terminator: Die Möglichkeit des Endes. Bewältigung und Zerstörung als kreative Prozesse in bildender Kunst, Literatur und Musik, Karlsruhe 2008 /// Karl Heinz Bohrer, Ästhetik des Schreckens, München/Wien 1978 /// Hanno Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung: Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001 /// Eva Geulen, Das Ende der Kunst. Lesearten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt am Main 2002 /// Gerald Graff, Literature against itself. Literary ideas in Modern Society, Chicago 1979 /// Justin Hoffmann, Destruktionskunst. Der Mythos der Zerstörung in der Kunst der frühen sechziger Jahre, München 1995 /// Georg Jansen, Prinzip und Prozess Auslöschung. Intertextuelle Destruktion und Konstruktion des Romans bei Thomas Bernhard, Würzburg 2005 /// Ulrich Treichel, Auslöschungsverfahen. Exemplarische Untersuchungen zur Literatur und Poetik der Moderne, München 1995 /// Gernot Weiß, Auslöschung der Philosophie. Philosophiekritik bei Thomas Bernhard, Würzburg 1993

14. 10. 09 /// A.V.

↑ Postskriptum ↑

Künstlerisches Schaffen als produktiver Prozess schließt Zerstörungsaktionen nicht aus. Man fragt sich sogar, ob diese nicht etwa Verinnerlichungsformen einer gewissen (selbst)destruktiven Tendenz der Kunst von jeher darstellen und kündigt folgerichtig entweder das Ende der Kunst oder hingegen ihre permanente Regeneration gerade über das schöpferische Potential der Zerstörung an. Ob verdüstert oder zuversichtlich versucht man allerdings in beiden Fällen, den Anteil der destruktiv angelegten Gesten an dem künstlerischen Schaffen zu bestimmen und stellt generell fest, dass Schaffen nicht nur Anhäufung, Vermehrung oder Wachstum bedeutet – weder im materiellen noch im strukturellen Sinne – , sondern paradoxerweise auch Reduktion, Minderung, Entschwinden.

Der Begriff des Auslöschens überspannt ein breites Spektrum poetischer Verfahren, die diese negative produktionsästhetische Seite des Schaffens ausmachen. Seine Ambiguität, die mit dem Schwanken zwischen einer technischen und einer quasi metaphorischen Valenz zusammenhängt, stellt seine Grenzen allerdings in Frage, macht ihn in poetologischer Hinsicht andererseits noch spannender, gerade weil er sich nicht ausschließlich als terminus technicus definieren lässt. Ohne sich mit je einer seiner Bedeutungen abdecken, und auch nicht mit dem viel zu weit reichenden und unspezifischen Begriff des Zerstörens überdecken zu können, ist ‚Auslöschen‘ als poetologischer Begriff im Grunde genommen unersetzbar. Darüber hinaus kann er ja sowohl auf das literarische als auch auf das künstlerische Schaffen überhaupt bezogen werden, was unweigerlich von seiner poetologischen Produktivität im weiteren Sinne zeugt.

14. 10. 09 /// A.V.