↓ abschreiben ↓
Abschreiben heißt, eine schriftliche Vorlage schriftlich wiederzugeben. Von den Vorgaben der Vorlage abweichende Eigenaktivitäten unterlaufen diesen Vorgang – verändern das Vorgegebene im Umschreiben oder korrigieren es im Reinschreiben. Der/ die Abschreibende tritt in ein Verhältnis zum Vorgeschriebenen, indem er/ sie sich der Vorschrift unterwirft. Abschreiben heißt aber immer auch imitieren, aneignen oder einer Autorschaft zuschreiben – ob zu Übungszwecken, im Auftrag oder aber mit usurpatorischen, plagiierenden, mystifizierenden Intentionen. Das künstlerische Potential des Abschreibens ist in der Spannung zwischen reproduktivem Zweck und dem Vorgang zuwider laufenden Abweichungen vom Vorgeschriebenen zu suchen. Zur Beschreibung der Tätigkeit sind folgende Kriterien aufschlussreich: Erstens die Technik des Abschreibens, die Frage nach dem Wie, Womit und Worauf, zweitens der ökonomisch-pragmatische Sinn des Abschreibens, drittens die Differenz zwischen Vor- und Abschrift.
Dem Abschreiben liegt die Idee der Handschriftlichkeit zu Grunde, zumindest aber ist das schreibende lineare Abschreiten der graphematischen Textoberfläche wesentlich. Abschreiben unterscheidet sich darin von einem mechanischem Abpausen bzw. ähnlichem Durch- und Abdrücken und einem fotomechanischen Kopieren. Dies auch, wenn man die etwas veraltete deutsche, bzw. noch immer geläufige englische oder französische Bedeutung des Wortes ‚kopieren‘ (to copy, copier) berücksichtigt. Abschreiben scheint also gar nicht nur und nicht so sehr auf das Duplikat, eine Vervielfachung hinauszulaufen. In Abhängigkeit von der verwendeten Schreibtechnik verändern sich die Quellen und Potentiale der Abweichungen der Abschrift vom Vorgeschriebenem. Auf diese Abweichungen gründet sich der Eigensinn der Abschrift. Abweichungen reichen von der Umgestaltung des Schriftbildes bis hin zum Eingriff durch den Abschreiber/ die Abschreiberin, der/ die seine/ ihre eigentlich im Abschreiben nicht vorgesehene Eigenleistung als Fehlleistung, als Lapsus erbringt – ob als Verschreiber, Tintenklecks oder Vertipper.
Der Eigensinn der Schrift spielt beim Abschreiben die zentrale Rolle. Im Abschreiben zeigt sich, dass ein ‚bloßes‘ Abschreiben de facto unmöglich ist. Im Abschreiben falsifiziert sich die Annahme, dass die Materialität der Schrift den Sinn des Geschriebenen nicht beeinflusse. Gerade aus dem Eigensinn der Schrift erwächst im scheinbar rein zweckbestimmten Abschreiben ein zweckfreier Raum. Dies kann auch für das zweckgebundene Abschreiben, man denke an sakrale, bürokratische oder kulturtechnische Szenerien, behauptet werden. So kann es geschehen, dass die metaphysischen, ideologischen oder disziplinären Dispositive des Vorgeschriebenen gerade dadurch wahrnehmbar werden, dass die Vorschrift reproduziert wird, das Vorgeschriebene also erst durch das Abschreiben als solches sicht- und lesbar wird. Genau darin scheint der künstlerische Reiz des Abschreibens, jener auf den ersten Blick so unkreativen Tätigkeit, zu liegen. Die materiale Differenz zwischen Vor- und Abschrift ermöglicht eine künstlerische bzw. kulturelle Umwertung der Tätigkeit des Abschreibens und der dem Abschreiben impliziten Dynamiken des Wiederholens, Abweichens, Übertreffens und Veränderns. Zwischen auratischer Vorschrift und entauratisierter Reproduktion ist dann der Abschreiber/ die Abschreiberin als die Autorin/ der Autor zu fassen. Auch wenn seine Autorität die der Schrift ist.
24. 02. 09 /// Brigitte Obermayr
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