reduzieren

↓ reduzieren ↓

Als Schreibverfahren heißt reduzieren, in eine Vorlage eingreifen, um diese in einer bestimmten Hinsicht zu verringern. Eine Reduktion kann auf der semantisch-assoziativen, der grammatika­lisch-syntaktischen oder der graphematisch-materiellen Ebene angestrebt werden. Im Prozess selbst kann sie als Herausstellung der wichtigsten inhaltlichen Aussagen, als Befreiung von unnötigem Beiwerk oder als Entschlackung der schriftbildlichen Erscheinungsweise verstanden werden. Dabei kann die Vorlage sowohl ein Fremdtext als auch selbstproduziertes Material sein.

Abhängig von der Art des Eingriffs können folgende Grundverfahren des Reduzierens unter­schieden werden: konstruktives Reduzieren und destruktives Reduzieren. Diese Unterscheidung kann mögliche Tendenzen eines Schreibprozesses benennen, beschreibt jedoch nicht erschöp­fend alle Formen reduzierender Verfahren.

Konstruktives Reduzieren lässt sich auf die Vorgaben des Referenzmaterials ein und respektiert dessen Eigenlogik. Die relevanten Momente, Motive und Aussagen des Materials werden durch den Eingriff möglichst deutlich herausgestellt. Der Eingriff zielt darauf ab, Interpretations­möglichkeiten, die als überflüssig oder irreführend betrachtet werden, auszuschalten. Im Idealfall bleiben alle notwendigen Elemente erhalten. Der Referenztext behält seine Autorität. Die Arbeit ist darauf ausgerichtet, Komplexität zurückzunehmen, um auf diese Weise zu einer Steigerung der Verständlichkeit zu gelangen.

Destruktives Reduzieren respektiert die Eigenlogik der schriftlichen Vorlage nicht. Der vermin­dernde Eingriff in den Korpus des Referenzmaterials erfolgt primär mit der Absicht, einen neuen Text mit einer eigenen Logik herzustellen. Der Referenztext behält seine Autorität nicht. Die Destruktion zielt somit auf den Referenztext, nicht auf den eigenen.

Das poetische Potential des Reduzierens entfaltet sich allerdings vornehmlich dann, wenn konstruktives Reduzieren in destruktives umschlägt und umgekehrt. So kann eine übersteigerte Form von Verständlichkeit eine irritierende, unkontrollierbare Bedeutungsoffenheit erzeugen, während umgekehrt der mutwillige Zugriff auf den Referenztext nicht nur für den neuen Text, sondern auch für die Vorlage zu einer produktiven, weiterführenden (und in diesem Sinne konstruktiven) Aktualisierung führen kann. Entscheidend für die Entfaltung solcher Potentiale im Schreibprozess sind die Lektüreerkenntnisse im Prozess des Schreibens selbst. So ist es wichtig, dass der Schreiber sich selbst immer wieder in die Rolle des Lesers versetzt, und zwar in die Rolle des Lesers von zwei Texten: des gelesenen und des neu geschriebenen. Provozierte Unschärfen als Ergebnisse von Reduktionsprozessen fordern Lektüren heraus, die hoch individualisiert sind.

14. 08. 10 /// Kay Steinke

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R. als Sprachform: Stifter, Der fromme Spruch (1867) /// R. als Entleeren des Schriftbildes: Stéphane Mallarmé, Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (1897) /// R. als stilistische Entschlackung: Ernest Hemingway, Old Man at the Bridge (1938) /// R. als Verdichten und Auslassen: Paul Celan, Sprachgitter (1959) /// R. als Verfahren der Textkürzung: Samuel Beckett, Imagination morte imaginez (1965) /// R. als Verfahren der Verkleinerung: Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1932-1939) /// R. als Imitation und Verfremdung des Stils von Groschenromanen: Elfriede Jelinek, Die Liebhaberinnen (1975) /// R. als Verknappen von Inhalt und Form: Raymond Carver, Will You Please Be Quiet, Please? (1976) /// R. als selbstverstandene Endstufe der Dichtung: Kay Steinke, Die Entschleunigung der guten Nachricht (2010)

14. 08. 10 /// K.S.

← Forschungsliteratur →

Helmut Heißenbüttel, „Reduzierte Sprache. Über einen Text von Gertrude Stein (1955)“, in: Über Literatur, Olten 1966 /// Klaus Ramm, Reduktion als Erzählprinzip bei Kafka, Frankfurt 1971 /// Walter Weiss, „Stifters Reduktion“, in: Johannes Erben und Eugen Turnher (Hrsg.), Germanistische Studien, Innsbruck 1969 /// Gabriele von Malsen-Tilbroch, Repräsentation und Reduktion: Strukturen späthöfischen Erzählens bei Berthold von Holle, München 1973 /// Hartmut Reinhardt, „Das kranke Subjekt: Überlegungen zur monologischen Reduktion bei Thomas Bernhard“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Geissen 1976 /// Karl-Heinz Köhler, Reduktion als Erzählverfahren in Heissenbüttels Textbüchern: Anspruch, theoretische Begründung und erzählerische Leistung von Heissenbüttels Reduktionsformen, Frankfurt 1978 /// Elisabeth Walbert, Prinzipien der Reduktion im Werk Wilhelm Raabes, Hochschulschrift: Bonn, Univ., Diss., 1980 /// Renate Brosch, Short Story. Textsorte und Leseerfahrung, Trier 2007 /// Sandra Berchtel, Die Kunst der Reduktion. Minimalismus in Literatur und Film, Saarbrücken 2008 /// Klaus Schubert, Konstruktion und Reduktion, in: Hans P. Krings und Felix Mayer (Hrsg.), Sprachenvielfalt im Kontext von Fachkommunikation, Übersetzung und Fremdsprachenunterricht, Berlin 2008, S. 209-219

14. 08. 10 /// K.S.

↑ Postskriptum ↑

Reduzieren, wie es hier beschrieben wird, unterscheidet sich vom Verständnis und Gebrauch des Wortes in Bildender Kunst, Architektur, Design und Musik. Dort meint es weniger das reduzierende Eingreifen in eine bestehende Vorlage als vielmehr eine Reduktion der Formen gegenüber bestehender Formkonventionen oder der Natur. In Minimal Art, Minimal Music und Minimal Design, die ihren Ursprung in den USA der 60er Jahre haben, findet sich in den meisten Fällen eine Reduktion auf Grundstrukturen und deren serielle Anordnung. So verstanden rückt das Reduzieren näher an Begriffe wie Verdichten, Minimalisieren, Vereinfachen, Geometrisieren oder Abstrahieren als an Streichen, Redigieren etc., wie in dem oben verfassten Artikel beschrieben.

Beide Formen des Reduzierens ließen sich jedoch zusammendenken, wenn man sie als Konzentration auf das Wesentliche verstehen möchte. So lassen sich einige Skulpturen Constantin Brancusis, auf den sich auch die amerikanischen Minimalisten beziehen, als reduzierende Kommentare zu eigenen oder fremden Werken lesen: Der Kuss (1907) kann als reduzierendes Zitat der gleichnamigen Skulptur von Auguste Rodin von 1886 verstanden werden und die zunehmende Reduktion hin zur Eiform von Schlafende Muse I (1909) über Prometheus (1911), Der erste Schrei (1913), Das Neugeborene (1915) bis zu Der Weltanfang (1920) als reduzierender Kommentar auf das eigene Werk. In beiden Fällen handelt es sich jedoch nicht um ein reduzierendes Eingreifen, wie im Artikel beschrieben, da das jeweilige Referenzwerk weiterhin in seiner Form bestehen bleibt. Diese Tatsache macht jedoch die Reduktion erst sichtbar, anders als bei der Veröffentlichung eines reduzierten Textes, bei dem die Vorstufen nicht mit veröffentlicht werden und über ein reduzierendes Schreibverfahren nur spekuliert werden kann.

14. 08. 10 /// K.S.