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Zitieren heißt Innehalten beim Schreiben, um einem gelesenen oder anderswie aufgenommenen Text oder Textausschnitt Einlass in den gegenwärtig geschriebenen Text zu verschaffen. Denkbar ist auch die umgekehrte Bewegung: Gelesenes oder anderswie Aufgenommenes wird eigens gesammelt und behalten, um es später in einem erst noch zu schreibenden Text verwenden zu können. Im Akt des Zitierens treten (mindestens) zwei Texte in Spannung zueinander: ein bereits vorhandener, neu gelesener, und der gerade geschriebene oder erst noch zu schreibende Text. Diese Spannung ist für den Akt des Zitierens konstitutiv. Im Schreiben kann sie unterschiedlich eingesetzt werden. Ein solcher Einsatz steht nicht im Widerspruch zur Annahme, dass unterschwellig jeder Schreibakt – indem dieser prinzipiell aus einer Wiederverwendung bereits bestehender Worte und Buchstaben besteht – zitierend verfährt und umgekehrt jeder Text seine Zitierbarkeit impliziert. Vielmehr liegt der Arbeit mit dieser Spannung diese Annahme gerade zugrunde: Weil Texte grundsätzlich zitierbar sind und neu geschriebene Texte stets auf bereits Geschriebenes rekurrieren, gibt es die Möglichkeit, diese prinzipielle Dimension von Sprache im Schreiben durch spezifische Akte des Zitierens ebenso differenziert zum Einsatz zu bringen.

Bewusst oder unbewusst werden in jedem Akt des Zitierens folgende Entscheidungen getroffen: (Auswahl) Welche Art von Material (Dokumentarisches, Literarisches, Bekanntes, Unbekanntes etc.) wird lesend zitiert? – (Grenze) Welcher Ausschnitt wird aus dem Gelesenen ausgewählt, wo die Grenze gezogen? – (Markierung) Wird das zitierend Gelesene durch Anführungsstriche, Kursivschrift, Sperrung oder dergleichen markiert oder nicht markiert? – (Nachweis) Wird der Kontext, aus dem heraus zitiert wird, durch, bibliographische Hinweise, Quellenangaben, Namensnennung oder dergleichen belegt oder nicht belegt (Dimension des Urheberrechts)? – (Wörtlichkeit) Wird wörtlich, sinngemäß oder gezielt abändernd zitiert (oder belegt)? – Und: (Gestus) In welchem Gestus (affirmativ, kritisch, autoritativ, destruktiv etc.) erfolgt der Akt des Zitierens?

Die Grundspannung, die der Akt des Zitierens erzeugt, lässt sich entsprechend vielfältig modulieren. Das kann mit einer Wirkabsicht im Hinblick auf bestimmte Rezeptionsmöglichkeiten erfolgen, die durch das Zitieren eröffnet oder nahegelegt werden (Absicherung der eigenen Position, Produktion von Geheimwissen, Ausweis von Kennerschaft, Markierung eines Bruchs zum Vergangenen, Suggestion von Kontinuität, Verlebendigung etc.). Dabei bleibt zwar notwendig ungewiss, was von etwaigen Absichten beim Zitieren im schließlich als Zitat vorliegenden Textereignis, das weitere Lektüren provoziert, übrigbleibt. Jede Leserin / jeder Leser wird das Zitat auf ihre / seine Weise wahrnehmen und zum Anlass für weitere Akte des Zitierens nehmen können. Aber festgelegt werden kann im Schreiben doch, was denn überhaupt zitiert wird und in welchem neuen Kontext das Zitierte stehen soll. Zitieren heißt schließlich, die vergangene Zukunft eines Textes als Jetztzeit zu bestimmen und mit der Art der Bestimmung gleichzeitig eine bestimmte Konzeption von Geschichte zu realisieren.

13. 03. 10 /// Redaktionsteam 1

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Z. als schreibendes Verhältnis zur Geschichte: Walter Benjamin, Passagenwerk (1982) /// Z. als Modus der Intertextualität: Julia Kristeva, Zu einer Semiologie der Paragramme (1969) /// Z. als Spezialuntersuchung: Antoine Compagnon, La seconde main ou le travail de la citation (1979) /// Z. als Figur des Gedächtnis: Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man (1986); ders., Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel (1988) /// Z. als Spur in der Rede: Jacques Derrida, „Signatur, Ereignis, Kontext”, in: Randgänge der Philosophie (1988) /// Z. als Excitatio: Jean-François Lyotard, „Emma” (1989) /// Z. in der traditionellen Literaturwissenschaft: Herman Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst (1991)

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Daniel Baudot (Hrsg.), Redewiedergabe, Redeerwähnung. Formen und Funktionen des Zitierens und Reformulierens im Text, Tübingen 2002 /// Klaus Beekman und Ralf Grüttemeier (Hrsg.), Instrument Zitat. Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, Amsterdam/Atlanta 2000 /// Sibylle Benninghoff-Lühl, Figuren des Zitats, Stuttgart/Weimar 1998 /// Elke Brendel u.a. (Hrsg.), Zitat und Bedeutung. Linguistische Berichte. Sonderheft 15, Hamburg 2007 /// Andrea Gutenberg und Ralph J. Poole (Hrsg.), Zitier-Fähigkeit, Berlin 2002 /// Manfred Harth, Anführung. Ein nicht-sprachliches Mittel der Sprache, Paderborn 2002 /// Renate Lachmann, Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik, in: Das Gespräch, Poetik und Hermeneutik XI, München 1984 /// dies.: Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a. M 1990 /// Bettine Menke, Das Nach-Leben im Zitat, in: A. Haverkamp, R. Lachmann (Hrsg.), Gedächtniskunst. Text und Raum, Frankfurt a. M. 1991 /// Volker Pantenburg und Nils Plath (Hrsg.), Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren, Bielefeld 2002 /// Elena Sciaroni, Das Zitatrecht, Fribourg 1970 /// Jakob Steinbrenner, Zeichen über Zeichen. Grundlagen einer Theorie der Metabezugnahme, Heidelberg 2004 /// http://www.zitatundbedeutung.uni-mainz.de (letzter Aufruf am 28.12.2008)

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