auslassen

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Etwas auslassen bedeutet, ein zu erwartendes Element in einem Text auszusparen. Ausgelassen werden können Textelemente unterschiedlichster Größenordnung – angefangen bei einzelnen Buchstaben bis hin zu ganzen Handlungselementen. Das Ergebnis des Auslassens ist eine Leerstelle. Seine Wirksamkeit erreicht das Verfahren durch das Schaffen einer Andeutung, die es möglich macht, eine Erwartungshaltung beim Leser zu produzieren.

Auslassen ist im Gegensatz zu Verfahren wie Streichen, Kürzen oder Weglassen nicht unbedingt als reduzierendes Verfahren zu verstehen, obgleich es ebenso ein Zuwenig an Information hinterlässt. Positiv formuliert, gestaltet sich das Auslassen als Konstruieren des Textes um eine (oder mehrere) Leerstelle(n) herum. Dabei stellt sich die Frage, ob und wie die Leerstelle markiert wird; eine gänzliche Nicht-Markierung ließe den Vorgang des Auslassens auf Textebene allerdings als Verfahren nicht mehr erkennbar werden. Da eine Leerstelle nicht durch sich selbst markiert ist – sie ist schließlich etwas Nicht-Geschriebenes – muss eine Markierung durch die Textumgebung oder durch eigens dafür vorgesehene Zeichen erfolgen.

Markiert werden kann sowohl auf graphischer Ebene, zum Beispiel durch einen Gedankenstrich oder drei Punkte, als auch auf semantischer Ebene, etwa mit der Ankündigung dann ausbleibender Handlungselemente oder einem Rückbezug auf Ausgespartes. Markierungen dieser Art machen ein Spannungsfeld zwischen der Eindeutigkeit des Gesagten und der Offenheit des Ausgelassenen auf.

Das poetische Potential des Auslassens liegt im Schaffen von Uneindeutigkeiten, ohne dabei Uneindeutigkeit zu suggerieren. Es setzt an die Stelle der verschwiegenen Information zunächst eine Bedeutungsoffenheit, die Leerstelle. Um wirksam zu werden, muss der Text um die Leerstelle herum allerdings so konstruiert werden, dass diese unabhängig davon, ob sie sinnvoll ausgefüllt werden kann, herausfordert, sinnvoll ausgefüllt zu werden. Das Ausgelassene, obwohl selbst unbestimmt, scheint dann gleichwohl kein beliebig Ausgelassenes zu sein – ähnlich wie ein Rätsel, für das es keine Lösung gibt, das aber trotzdem eine Lösung verspricht und verlangt. Zur höchsten Komplexität gelangt das Auslassen als poetisches Verfahren, wenn eine Leerstelle mehrere Wege einer potentiellen Auflösung offenhält, diese jedoch in einem paradoxen Verhältnis zueinander stehen lässt. So wird es unmöglich, das ausgelassene Textelement auf eine einzige sinnvolle Weise auszufüllen. Der Prozess der Vervollständigung bleibt im besten Sinne unabgeschlossen.

28. 12. 09 /// Mathias Prinz

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A. als Leserirritation: Heinrich von Kleist, Die Marquise von O.… (1808) /// A. durch Ellipsen (Zeitsprünge): Stendhal, Kartause von Parma (1839) /// A. von sexuellen Begegnungen: Gustave Flaubert, Madame Bovary (1856); Theodor Fontane, Effi Briest (1895) /// A. als Deutungsfalle: Franz Kafka, Vor dem Gesetz (1915) /// A. als zersetzendes Formprinzip: James Joyce, Ulysses (1922) /// A. durch Perspektivierung: Virginia Woolf, Die Wellen (1931); Alain Robbe-Grillet, Die blaue Villa in Hongkong (1965) /// A. als Handlungsmotivation: Samuel Beckett, Warten auf Godot (1952) /// A. von Wörtern, die einen bestimmten Buchstaben enthalten, als (leipogrammatisches) Konstruktions­prinzip eines Romans und als Reflexion über traumatische Verlusterfahrungen: Georges Perec, La Disparition (1969); in deutscher Übersetzung, ebenfalls ohne den Buchstaben „e“: Georges Perec, Anton Voyls Fortgang, hrsg. und übers. von Eugen Helmlé (1986)

28. 12. 09 /// M.P.

← Forschungsliteratur →

Natascha Adamowsky und Peter Matussek (Hrsg), [Auslassungen] Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft, Würzburg 2004 /// Jenny Graf-Bicher, Funktionen der Leerstelle. Untersuchungen zur Kontextbildung im Roman am Beispiel von ‘Les Filles de joie’ von Guy des Cars und ‘Les Caves du Vatican’ von André Gide, München 1983 /// Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 1972 /// Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970; ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1972; ders., Der implizite Leser. Kommunikationsformen des englischen Romans von Bunyan bis Beckett, München 1976 /// Sabine Kuhangel, Der labyrinthische Text. Literarische Bedeutungs­offenheit und die Rolle des Lesers, Wiesbaden 2003 /// Danielle Reif, Die Ästhetik der Leerstelle. Raymond Federmans Romasn ‘La Fourrure de ma tante Rachel’, Würzburg 2005 /// Birgit Schlachter, Schreibweisen der Abwesenheit. Jüdisch-Französische Literatur nach der Shoah, Köln 2006

28. 12. 09 /// M.P.

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Ein einfaches Beispiel einer Auslassung findet sich in Goethes Faust:
Faust: „Darf ich euch begleiten?“
Gretchen: „Die Mutter würde mich – lebt wohl.“

Wolfgang Iser schreibt die Aufgabe der Ausfüllung einer Leerstelle im Rahmen seiner rezeptions­ästhetischen Argumentation dem Leser zu. Er benennt das vermehrte Auftreten von Leerstellen in Texten seit dem 18.Jhd als Überschreibung der kreativen Leistung an den Leser.

28. 12. 09 /// M.P.

Die Frage stellt sich jedoch, ob man das rezeptionsästhetische Modell nicht besser produktions­ästhetisch denken sollte: Welche Arten des Schaffens von Leerstellen gibt es? Und welche Effekte haben diese auf die Lektüre?

28. 12. 09 /// Sandro Zanetti