polemisieren

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Polemisieren heißt, sich eindeutig gegen etwas Bestimmtes auszusprechen. Die Aussprache kann sich, rein negierend, gegen etwas Bestimmtes richten oder etwas Eigenes, in scharfer Abgrenzung zum anderen, stark machen. Die polemische Äußerung kann sich gegen Meinungen, Positionen oder Verhältnisse richten, aber auch gegen Personen oder Personengruppen – meistens in deren Eigenschaft als Vertreter einer bestimmten Meinung oder Position.

Zweck des Polemisierens ist es, die Leser von der Falschheit des gegnerischen Standpunktes zu überzeugen; aus diesem Grund ist in erster Linie nicht der Gegner, sondern die Leserschaft der Adressat einer Polemik.

Es gibt unterschiedliche Spielarten des Polemisierens, doch allen ist gemeinsam, dass stets eindeutig eine bestimmte Meinung vertreten wird: Wer polemisiert, hegt weder Zweifel an seinem Standpunkt, noch wägt er ab oder lässt Raum für offene Fragen. Nur einseitige Argumente werden geltend gemacht, gegnerische allenfalls angeführt, um sie zu schwächen oder zu widerlegen.

Anlass einer Polemik ist in der Regel ein persönliches, emotionales Betroffensein. Jenes wird beim Schreiber durch die Meinung, die Zustände oder auch die Person hervorgerufen, gegen die er polemisieren wird. Beim polemischen Schreiben sind also Affekte wie Wut, Zorn, Hass oder Frustration mit im Spiel. Solche Emotionen können Auslöser einer polemischen Auseinandersetzung mit ihrer Ursache sein, sie schlagen sich aber auch häufig im Geschriebenen selbst nieder. Das Polemisieren bietet dem Schreibenden die Möglichkeit, seinen Affekten Luft zu machen und sich durch und während des Vorgangs des Polemisierens von ihnen zu befreien.

Eine geglückte Polemik wird in der Öffentlichkeit auf Resonanz stoßen; mit der Absicht, die erste Polemik zu erweitern, zu relativieren oder zu widerlegen, werden weitere Polemiken veröffentlicht; auf diese wird der erste Schreiber oder auch ein Dritter wiederrum reagieren. Darin liegt das poetische Potential des Polemisierens: Im Idealfall führt eine einzelne Polemik zu einem dynamischen Prozess.

Durch dieses Eingebundensein in eine öffentliche Diskussion bekommt der polemisierende Autor die Freiheit zur bewussten Übertreibung und Grenzüberschreitung. Schließlich wird die Öffentlichkeit entscheiden, ob seine Behauptungen so stehen bleiben dürfen oder ob sie moderiert oder modifiziert werden müssen. Der Polemiker darf Behauptungen aussprechen, die in anderen Kontexten unmöglich wären. Er erwartet also geradezu Widerspruch – er fordert ihn sogar bewusst heraus. Diese Möglichkeit zur Grenzüberschreitung wird dann ergriffen, wenn es darum geht, neue Denkansätze oder Sichtweisen zu etablieren, wenn Forderungen gestellt oder allgemeingültige Wahrheiten eingerissen und ersetzt werden sollen. Polemisiert wird dort, wo Altes, Festgefahrenes und Traditionelles gesprengt werden muss.

23. 11. 11 /// Eva Zink

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P. als Bloßstellung des Gegners: Dunkelmännerbriefe (1515, 1517) /// P. als Befreiung von alten Überzeugungen: Johann Wolfgang von Goethe, Prometheus (1772-1774) /// sachlich-argumentatives P.: Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre. Polemischer Teil (1810); Karl Marx, Ad Feuerbach (1845) /// Anleitung zum rechthaberischen P.: Arthur Schopenhauer, Eristische Dialektik oder Die Kunst Recht zu behalten (um 1830) /// P. als revolutionäre Handlung: Georg Büchner, Hessischer Landbote (1834) /// P. als Produkt von Frustration: Arthur Schopenhauer, Zweite Vorrede, in: Die Welt als Wille und Vorstellung (1844) /// P. als Zeit- und Politikkritik: Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) /// P. zur Etablierung von Neuem: Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887) /// persönlich-vernichtendes P.: Karl Kraus, Harden. Eine Erledigung (1907)

23. 11. 11 /// E.Z.

← Forschungsliteratur →

Wilhelm Emrich, Polemik. Streitschriften, Pressefehden und kritische Essays, Frankfurt am Main 1968 /// Ludwig Rohner, Die literarische Streitschrift. Themen, Motive, Formen, Wiesbaden 1987 /// Stefan Straub, Der Polemiker Karl Kraus. Drei Fallstudien, Marburg 2004 /// Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1989 /// Hermann Stauffer „Polemik“. in: Gert Ueding, Walter Jens (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 1992, S. 1403-1415

23. 11. 11 /// E.Z.

↑ Postskriptum ↑

1. Der Vorgang des Polemisierens lässt sich wie folgt skizzieren: (1) Der potentielle Polemiker stört sich an oder empört sich über etwas und wird dadurch emotional aufgewühlt. Aus dieser Nichtakzeptanz entsteht der Wille und die Absicht eine Polemik zu verfassen. (2) Zur Ausführung dessen muss der Schreiber sich zunächst darüber klar werden, welche Punkte es sind, an denen er sich stößt, warum und was ihn genau daran stört und welche Antihaltung er dazu einnimmt – er muss eine Alternative entwerfen. (3) Darauf aufbauend kann er eine Argumentation ausarbeiten: Er muss Argumente finden, durch die er den Gegner angreifen kann, eine eigene (Anti-)These aufstellen und diese durch Argumente untermauern. (4) Desweiteren wird der Polemiker versuchen, Schwachstellen des Gegners aufzudecken. Dies können argumentative, logische Fehler oder Argumente ad hominem sein. (5) Darauf folgt die sprachlich-stilistische Ausformulierung der Polemik und (6) ihre Veröffentlichung.

2. Typische sprachliche Mittel, die in Polemiken zum Einsatz kommen sind folgende: Die Argumente, die die eigene Haltung unterstützen, werden so weit zugespitzt, pointiert, oder verkürzt präsentiert, als wären sie die einzig gültigen; gegnerische werden übertrieben wiedergegeben, um sie ab absurdum zu führen und ins Lächerliche zu ziehen. Ironie, Sarkasmus und Zynismus sind geläufige Stilmittel um die Schwächen des Gegner offenzulegen oder ihn sogar bloßzustellen und unmöglich zu machen. Es kommt auch vor, dass der Gegner persönlich angegriffen, beleidigt, beschimpft oder verspottet wird. Die Sympathie des Lesers soll durch Witz gewonnen werden. Es wird versucht ihn durch Horrorszenarien, Metaphern, Vergleiche und Beispiele von der Falschheit des Gegners zu überzeugen. Weitere geläufige Mittel sind rhetorische Fragen, Schwarz-Weiß-Zeichnungen, Antithesen und Sprachspiele.

3. Vom Nutzen des Polemisierens:
„Wenn einer gegen dieses schreiben will, so wird mir das willkommen sein. Denn Wahr und Falsch wird auf keine Weise besser offenbar und enthüllt als im Widerstand gegen den Widerspruch.“ A. Augustinus
„Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten, kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen.“ G. E. Lessing

4. Gefahren des Polemisierens:
„Heine und Platen, auch Kraus und Harden – ihre Polemik versandete, aber jeder der Streithähne hatte am Ende etwas verspielt […]. Manchmal ist der Ruf, den einer zerstört sein eigener.“ L. Rhoner

23. 11. 11 /// E.Z.