improvisieren

↓ improvisieren ↓

Improvisieren heißt, etwas ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif oder ad hoc dar- oder herzustellen. Vom Wort her ist das »Improvisierte«‚ das Nicht-Vorhergesehene: das Unvorhergesehene. Im Unterschied zum planenden Schreiben, bei dem die Absicht besteht, einen bereits gefassten Gedanken oder eine im Kopf bereits entworfene Geschichte möglichst unmittelbar und widerstandsfrei aufs Papier zu bringen, besteht improvisierendes Schreiben darin, Einfälle zuzulassen oder zu provozieren, um diese simultan in den Schreibprozess und in das schließlich Geschriebene eingehen zu lassen. Schreibend improvisieren heißt jedoch nicht, schlechthin planlos zu verfahren, denn der Entschluss, nicht-planvoll vorzugehen, kann seinerseits mit Absicht vorgenommen werden. Es geht dann darum, einen Freiraum zu schaffen, in dem es möglich wird, unvorhergesehene Einfälle, situativ bestimmte Assoziationen und kontextuell motivierte Eindrücke schreibend festzuhalten, zu variieren und schließlich in eine syntaktische Struktur zu überführen.

Dabei ist es zwar grundsätzlich nicht möglich, den Prozess des Improvisierens bruchlos in das schriftlich schließlich Fixierte über- und eingehen zu lassen: Die mediale Differenz bleibt unüberbrückbar. Wohl aber ist es möglich, die Differenz zwischen Prozess und Fixierung, Bewegung und Stillstand, Anfangen und Enden, ihrerseits als Spielraum zu begreifen, der ins schließlich Geschriebene Momente von Unvorhersehbarkeit, Offenheit, Dynamik einträgt. So wird es letztlich auch möglich, geschriebenen Texten einen improvisatorischen Charakter oder eine entsprechende Rhythmik zu verleihen.

Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Konzepte des Improvisierens unterscheiden. Das eine – artistische – Konzept besteht darin, Improvisieren als Kunst zu verstehen, die erlernt und eingeübt werden kann und die letztlich darin besteht, eine sich plötzlich einstellende Schwierigkeit beim Schreiben durch antrainierte Kunstgriffe zu lösen. Das andere – experimentelle – Konzept besteht darin, es gerade darauf anzulegen, eine Aufgabenstellung oder eine Situation, die nicht ohne weiteres bewältigt werden kann, zu provozieren, um sich selbst auf neue Ideen zu bringen und neue Verfahren der Wortfindung und -reihung zu erproben. Während das erste Konzept darauf hinausläuft, den Prozess des Improvisierens immer schon in einem Ensemble von bekannten und erlernbaren Regeln zu verorten, steht im zweiten Konzept die Motivation im Vordergrund, die Unkalkulierbarkeit der Zukunft als Chance zu begreifen.

07. 01. 09 /// Sandro Zanetti

→ Wegmarken ←

I. als rhetorische Fertigkeit (antike Rhetorik): Quintilian, Institutio oratoria X,7 /// I. als Vorstufe zur Dichtung (historisch und individuell): Aristoteles, Poetik 1448b [20] /// I. in der italienischen Renaissance: Commedia dell’Arte /// I. im romantischen Sprachdenken (1798): Novalis, „Monolog“ /// I. als Mittel der Gedankenfindung (1805): Heinrich von Kleist, „Über die allmählige [sic!] Verfertigung der Gedanken beim Reden“ /// Der Improvisator als literarische Figur in der Spätromantik (1835): Andersen, Der Improvisator /// I. als Schreibverfahren im Surrealismus (1924): Breton, Erstes Manifest des Surrealismus /// I. als provoziertes Verhalten im Situationismus (1955-58): Debord, „Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie“, „Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung“, „Vorbereitende Probleme bei der Konstruktion einer Situation“ /// I. als Basteln (1962): Lévi-Strauss, Das wilde Denken (Kap. 1) /// I. im ‚glatten Raum‘ (1980): Guattari/Deleuze,Tausend Plateaus (Kap. 14) /// taktisches I. (1980): de Certeau Kunst des Handelns (Kap. 3)

07. 01. 09 /// S.Z.

← Forschungsliteratur →

Christopher Dell, Prinzip Improvisation, Köln 2002 /// Angela Esterhammer, „The Cosmopolitan Improvvisatore: Spontaneity and Performance in Romantic Poetics“, in: European Romantic Revue16,2 (April 2005), S. 153-165 /// Uwe Klawitter, „Improvisation“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, S. 307-314 /// Robert Henke, Performance and Literature in the Commedia dell’Arte, Cambridge 2002 /// Chris Holcomb, „‚The Crown of All Our Study‘. Improvisation in Quintilian’s Institutio Oratoria“, in: Rhetoric Society Quarterly31, No. 3, Summer 2001, S. 53-72 /// Keith Johnstone, Theaterspiele. Spontaneität, Improvisation und Theatersport, deutsch von Christine und Petra Schreyer, Berlin 1998 /// Ronald Kurt und Klaus Näumann (Hrsg.), Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2008 /// Kenneth and Laura Richards, The Commedia dell’Arte. A documentary history, Oxford 1990 /// Wiktor Weintraub, „The Problem of Improvisation in Romantic Literature“, in: Comparative Literature 16,2 (Spring 1964), S. 119-137

07. 01. 09 /// S.Z.

↑ Postskriptum ↑

Einige der unter den „Wegmarken“ genannten Arbeiten handeln nicht explizit vom Improvisieren. Gleichwohl enthalten diese Arbeiten sachdienliche Hinweise für eine weitere Auseinandersetzung mit der Thematik oder erweisen sich historisch als Transformationen von Improvisationskonzepten, die sich für gegenwärtige Schreibverfahren als aufschlussreich herausstellen dürften. Das grundsätzliche Problem beim Nachdenken über Improvisationsvorgänge beim Schreiben besteht darin, dass die meisten Stellungnahmen zur Kunst des Improvisierens sowie auch die oben erwähnte „Forschungsliteratur“ sich nicht oder kaum um den Prozess des Schreibens kümmern. Erfindungsgabe ist also gefragt, wenn es darum gehen soll, bereits bestehende Konzepte des Improvisierens auf ihre mögliche schreibpraktische Dimension zu befragen. Dazu kommt ein Dokumentationsproblem: Improvisationsprozesse entziehen sich grundsätzlich – vor allem aber, wenn man es ausschließlich mit Texten als ihren Ergebnissen zu tun hat – der direkten Beobachtung. Entsprechend bleibt festzuhalten, dass die genannten „Wegmarken“ sich vornehmlich auf Konzepte des Improvisierens beziehen und die Frage nach den konkreten Praktiken immer wieder von neuem zu stellen bleibt.

07. 01. 09 /// S.Z.