kritzeln

↓ kritzeln ↓

Kritzeln heißt, mit einem Stift spontan und erkundend Bewegungen zu vollziehen und dadurch Spuren zu hinterlassen. Kritzeln ist nicht Schreiben und auch nicht Zeichnen, kann aber davor, danach, dazwischen oder daneben geschehen. Kritzeln kennt, anders als es beim Schreiben und Zeichnen meist der Fall ist, kein übergeordnetes Ziel und steht in keinem Gebrauchskontext; man kritzelt nicht für etwas Bestimmtes. Genauso wenig kritzelt man etwas Bestimmtes. Kritzeln kennt keinen Referenten, das Gekritzelte verweist immer nur auf sich selbst. Kritzeln kann nicht scheitern, bleibt vorläufig und stößt aus sich heraus an keine Grenzen.

Innerhalb eines Schreibprozesses wird dann gekritzelt, wenn sich die Hand verselbstständigt. Das Schreiben wird unterbrochen, die Bewegung des Schreibens bleibt aber erhalten. Gekritzelt wird beiläufig, Kritzeln bedeutet abzuschweifen, die geordnete Schrift zu verlassen und andere grafische Ausdrucksweisen zu erkunden. Die Tätigkeit, die Bewegung selbst steht im Vordergrund und nicht, was dabei herauskommt. Kritzeln hinterlässt sichtbare Spuren und lässt die materielle und visuelle Dimension des Schreibens sowie die Fläche des Blattes in den Vordergrund treten. Kritzeleien können sich auf den Blattrand beschränken, der Schrift den Platz auf dem Papier streitig machen oder sich auch über das Geschriebene ausdehnen.

Kritzeln dient nicht dazu, das Geschriebene zu ergänzen oder zu illustrieren, sondern eröffnet einen grafischen Nebenschauplatz. Dabei wird kein Ziel verfolgt; wer kritzelt, kann sich gedanklich mit etwas ganz anderem oder auch mit nichts beschäftigen, muss sich nicht anstrengen und muss nicht wissen, was auf dem Papier entsteht. Somit ist Kritzeln freier und ungeordneter als Schreiben. Diese Differenz zum Schreiben kann während des Kritzelns wahrgenommen werden und entsprechend auf das Schreiben zurückwirken. Die Gedanken können beim Kritzeln potentiell stärker abschweifen und ungeordneter sein als während des Schreibens, was neue, unvorhergesehene Einfälle begünstigen kann. Oft wird in einem zweiten Schritt auf das Gekritzelte reagiert, indem Formen darin erkannt und hervorgehoben, Ergänzungen gemacht oder Verbindungen hergestellt werden. Ein solcher Revisionsprozess kann dazu führen, dass auch bereits Geschriebenes, also nicht nur das Gekritzelte, überarbeitet wird.

Kritzeln kann als offene, explorative Schreibpause angesehen werden, die durch die Fortsetzung der Handbewegung sowie die grafische Spur mit dem Schreiben gleichwohl in Verbindung bleibt. Dies allerdings nur dann, wenn nach dem Kritzeln weitergeschrieben wird. Gelingt dieser Übergang nicht, kann Kritzeln das Ende des Schreibens bedeuten, und somit birgt Kritzeln im Kontext eines Schreibvorhabens immer auch eine Gefahr. Als Schreibpause kann Kritzeln entlastend wirken, weil es keine kognitive Kontrolle, kein Geschick und keine Konzentration erfordert. Das poetische Potential des Kritzelns liegt darin, dass es in dieser Entlastung und Absichtslosigkeit, diesem Abschweifen und beiläufigen Tätigsein möglich ist, neue Impulse für den Schreibprozess zu gewinnen, wobei diese Impulse auch jenseits eines aktuellen Vorhabens wirksam werden können.

09. 04. 15 /// Laura Basso 

→ Wegmarken ←

Von K. befallenes Schreiben: Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher /// K. als lästige, selbstständige Bewegung der Feder, die das Schreiben verhindert: Friedrich Nietzsche, „Die Feder kritzelt“,  in: Die fröhliche Wissenschaft (1882) /// K., das sich aus dem Zeichnen heraus ergibt und Überhand gewinnt: literarisch dargestellt bei Gottfried Keller, Der Grüne Heinrich (1879) /// K. als abweichende Schreibbewegung: z.B. Franz Kafka, Das Schloss (1926) /// K. als künstlerische Praxis, bei der Gestik und Materialität des Zeichnens/Schreibens im Vordergrund stehen: Cy Twombly /// (Ab-)Schreiben, dass sich in K. auflöst und dadurch zum (Schrift-)Bild wird: Simon Hantaï, Peinture (Écriture rose) (1958-9) /// Vermeintliches K., bis die nach Gekritzel aussehenden Linien als sehr kleine Schrift erkannt wurden: Robert Walser, Mikrogramme /// K. als Übergang zur Illustration: z.B. bei Mechthilde Lichnowsky

09. 04. 15 /// L.B.

← Forschungsliteratur →

Roland Barthes, Cy Twombly, Berlin 1983 /// Roland Barthes, „Sagesse de l’art“ (1979) und „Cy Twomby ou ‚Non multa sed multum‘“(1979), in: Oeuvres complètes, Tome III, Paris 2002, S. 1021–1032 und S. 1033–1047 /// Jacques Derrida, Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris 2000 /// Christian Driesen, Rea Köppel, Benjamin Meyer-Krahmer und Eike Wittrock (Hg.), Über Kritzeln. Graphismen zwischen Schrift, Bild, Text und Zeichen, Zürich 2012 /// Simon Hantaï, Jean-Luc Nancy und Jacques Derrida, La connaissance des textes. Lectures d’un manuscrit illisible (Correspondance), Paris 2001 /// Heinrich Steinfest, Randzeichnungen. Nebenwege des Schreibens, hg. vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, Marbach am Neckar 2010

09. 04. 15 /// L.B.

↑ Postskriptum ↑

1. Das hier beschriebene Kritzeln ist an Papier oder andere gegenständliche (Schreib-)Flächen gebunden und dementsprechend nur in solchen Schreibprozessen (oder Phasen davon) möglich, die von Hand geschehen. Es ist jedoch denkbar, dass sich beim Schreiben mittels Textverarbeitungsprogrammen andere Formen des Abschweifens oder der Entlastung zeigen (wie beispielsweise im Internet zu surfen), die gewissermaßen als digitales Kritzeln fungieren. Wobei der graphische Aspekt natürlich verloren geht. Auch der im Kritzeln vollziehbare Übergang von Schreiben zu Zeichnen und umgekehrt scheint am Computer nicht möglich zu sein, jedoch kann digitales Kritzeln auch, und vielleicht noch stärker als dasjenige auf dem Papier, in eine Vielzahl anderer Tätigkeiten umkippen.

2. Abgrenzung zur Marginalie: Die Unterschiede zwischen Gekritzel und Marginalie bestehen erstens darin, dass sich die Marginalie ihrem Namen entsprechend auf den Rand einer Seite beschränkt, während Kritzeln überall auf dem Papier geschehen und sich auch über den Text ausbreiten kann. Zweitens wird unter Marginalie meist eine Anmerkung oder ein Kommentar verstanden, während Kritzeln hier als nicht-schriftlich aufgefasst wird.

09. 04. 15 /// L.B.