visualisieren

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Visualisieren meint die Verwendung von Schrift in Hinblick auf eine Bildwirkung. Schrift dient als Zeichenträger für Sprache und besitzt zugleich eine Eigenrealität. Da Sprachhandlungen grundsätzlich in einem Nacheinander stattfinden, Schrift jedoch räumlich ist, entsteht ein Widerspruch zwischen der simultan wahrnehmbaren Schrift und der in zeitlicher Abfolge zu deutenden Sprache, für die sie das Medium ist. Visualisieren geht bewusst mit diesem Doppelcharakter von Schrift als Materiellem und Medium um. Das Verfahren zielt auf die Wahrnehmung von Schrift als Eigenrealität, entgegen dem bloßen Lesen, d. h. dem Sehen und Deuten einzelner Zeichen in einem Nacheinander. Dabei wird die Räumlichkeit von Schrift als Möglichkeit genutzt, um bildspezifische Effekte wie z. B. Simultanität und Evidenz zu erzielen. Visualisieren kann durch Individualisieren und ungewöhnliches Setzen von Schrift oder das Spielen mit den Schriftzeichen stattfinden.

Individualisieren von Schrift meint das Ausgestalten von Schriftzeichen über ihre visuelle Zeichenform hinaus. Entgegen ihrem Grundcharakteristikum als allgemeines Zeichen, erhält sie durch Gestaltung Einzigartigkeit. Handschrift bietet sich dabei an, da diese entgegen gedruckter Schrift visuell einmalig ist oder zumindest den Eindruck von Einmaligkeit erweckt. Schwierigkeiten bei der Lesbarkeit können diesen Effekt verstärken. Auch durch die Brechung der funktionalen Anordnung von Schriftzeichen wird ein anderes Sehen von Schrift als beim Lesen provoziert. Dadurch macht die Schrift die Spannung zwischen dem Zweck der Schrift als Zeichen und der Möglichkeit von Schrift, Bild zu sein, anschaulich. Der Betrachter nimmt die Schrift in dem Wissen, dass es sich um ein Medium für Sprache handelt, in ihrer eigenen Materialität, also Sichtbarkeit, wahr.

Eine weitere Möglichkeit des Visualisierens sind Spiele mit Buchstaben und Silben wie z. B. Anagramme und Palindrome. Hier findet entgegen dem üblichen Verhältnis von Schrift als Zeichen für Sprache eine Schaffung sprachlichen Sinns durch den Umgang mit Schrift statt. Spielen mit den Schriftzeichen selbst unter Berücksichtigung syntaktischer Regeln wie z. B. Anagramme oder Palindrome erzeugt einen poetischen Sinn. Im Spiel wird das übliche Abhängigkeitsverhältnis von Schrift als Zeichenträger der Sprache umgekehrt.

Visualisieren kann auf die Vermeidung von sprachlichem Sinn zielen. Indem der Fokus auf die Materialität von Sprache gerichtet wird, soll ihre Bedeutung als sprachliches Zeichen zufällig und somit unsinnig erscheinen. Wichtig wird dann die Eigendynamik sprachlicher Sinnproduktion.

Visualisieren entledigt die Schrift nicht ihrer Funktion als Sprachzeichen. Beide Sinnebenen, die der Schrift als Zeichen und die der Schrift als Bild, stehen in einem Widerspruch zueinander. Visualisieren erzeugt dadurch ein Irritationsmoment beim Betrachter. Gewohnte Sehtechniken sind nicht mehr anwendbar. Neue Formen des Sehens, jenseits der identifizierenden Anschauung, werden dann notwendig.

03. 06. 10 /// Janna Schielke

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V. durch ungewöhnliches Setzen: Theokrit, Syrinx (ca. 250 v. Chr.); Georg Weber, Sieben Theile Wohlriechender Lebensfrüchte (1649); Catarina Regina v. Greiffenberg, Über den gekreuzigten Jesus (ca. 1690); Laurence Sterne, Die Bewegung von Trims Stock (1767); Stéphane Mallarmé, Un Coup de Dés (1897); Jörg Albrecht, Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif (2008) /// V. durch Gestalten der Schriftzeichen: Book of Lindisfarne (715-721) /// V. als Vermeidung von Sinn: Filippo Tommaso Marinetti, Zang Tumb Tumb (1914); Richard Huelsenbeck, Marcel Janko, Tristan Tzara, L’Amiral cherche une maison à louer (1916) /// V. durch Spielen mit Schriftzeichen: Ernst Jandl, Niagarafälle (1961); Eugen Gomringer, Wind (1969)

03. 06. 10 /// J.S.

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Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994 /// Ludwig D. Morenz, Bild-Buchstaben und symbolische Zeichen, Freiburg und Göttingen 2004 /// Willibald Sauerländer, Initialen – Ein Versuch über das verwirrte Verhältnis von Schrift und Bild im Mittelalter, Wolfenbüttel 1994 /// Jeremy Adler und Ulrich Ernst, Text als Figur – Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Wolfenbüttel 1987 /// Davide Giuriato, Martin Stingelin, Sandro Zanetti (Hrsg.), „Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: Von Eisen“. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München 2008 /// Erika Greber, Konrad Ehlich, Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Materialität und Medialität von Schrift, Bielefeld 2002 /// Peter Koch, Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift, Medien, Kognition – Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen 1997 /// Sonja Neef, Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Berlin 2008 /// Davide Giuriato, Stephan Kammer, Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Frankfurt am Main 2006 /// Christian Kiening, Martina Stercken (Hrsg.), SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008

03. 06. 10 /// J.S.