anagrammieren

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Anagrammieren ist ein buchstabenorientiertes Schreibverfahren, das sich der Kombinatorik des Alphabets bedient: Durch Neuanordnung des Buchstabenmaterials eines Wortes, Satzes oder Textes wird ein neuer Text produziert.

Anagrammatische Schreibtechniken erfordern einen Blick auf das geschriebene Wort, der eingeübte Lesepraktiken durchkreuzt: Das Schriftbild wird nicht wie üblich in seiner vorge­schriebenen Linearität abgetastet, um es in einzelne Bedeutungseinheiten zu übertragen, sondern auf sein Potential zur Permutation und Rekombination hin untersucht. So ist beim Anagrammieren unabhängig davon, ob es als hermeneutisches, kryptographisches oder poetisches Verfahren eingesetzt wird, die Textproduktion eng an Lektürepraktiken gebunden.

Anagrammieren als hermeneutisches Verfahren geht von einer sinnhaften Beziehung zwischen den Dingen und ihren Namen aus; häufigste Form ist das Anagrammieren von Eigennamen, das eine Zuschreibung von Charaktereigenschaften einer Person gegenüber zum Ziel hat. Als kryptographisches Verfahren eingesetzt, dient das Anagrammieren der Verschlüsselung von Eigennamen oder Texten. Anders als bei substituierenden (ersetzenden) kryptographischen Verfahren, wird es mit zunehmender Länge schwieriger bis unmöglich einen anagrammierten Text zu entschlüsseln. Um dennoch eine Dechiffrierung zu ermöglichen, können Zusatzregeln, die beispielsweise das semantische Feld des gesuchten Wortes eingrenzen, mitkommuniziert werden.

Als poetisches Verfahren kann Anagrammieren in zwei grundsätzliche Spielarten unterschieden werden: (1) Einzelne (unvollständige) Anagramme können über einen längeren Text verteilt Verweisungszusammenhänge erzeugen und dem Text eine zweite Bedeutungsschicht einzuschreiben; Anagrammieren wird damit zu einem Prinzip der Textorganisation. (2) Einer strengeren Regelhaftigkeit ist das Anagrammieren unterworfen, wenn es zur seriellen Permutation von begrenztem Ausgangsmaterial dient. Hier gilt die Regel, dass in jeder neuen Zeile das Buchstabenmaterial der Ausgangszeile restlos aufgehen muss. Verschiedene Hilfsmittel können dienlich sein, um dieses Auffinden von Wörtern in Wörtern zu erleichtern: Die Bandbreite reicht von einfachen Wortlisten, die mit Stift und Papier durch Ausstreichen der einzelnen Buchstaben des Ausgangsmaterials erzeugt werden, über das Arrangieren von beweglichen Lettern (bspw. Scrabble-Spielsteine) bis hin zu computerbasierten Anagramm­generatoren.

Trotz dieser technischen Hilfsmittel braucht es eine ordnende Instanz, die die gefundenen Wörter in eine syntaktisch und semantisch sinnvolle Anordnung bringt. Dies gilt gerade dann, wenn das Ausgangsmaterial bestimmte Flexionsformen konsequent verhindert (ist bspw. der Buchstabe T nicht vorhanden, kann von Verben kein Präsens der 2. oder 3. Person Singular gebildet werden) oder das realisierbare Vokabular derart disparaten Kontexten stammt, dass es erst über eine trickreiche Anordnung sinnvoll aufeinander bezogen werden kann.

Das poetische Potential letzterer Form des Anagrammierens liegt im unverwertbaren Rest einer Zeile, der entweder zur Kreation neuer Wörter/Eigennamen zwingt oder durch Worttrennung in die nächste Zeile übergeht und so zur Keimzelle für neue anagrammatische Verschiebungen und Verkettungen wird.

03. 04. 12 /// Johanna Stapelfeldt

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A. von Eigennamen als Form des Herrscherlobs: Lykophron, Πτολεμαίος -> απο μελίτος (3. Jh.v.Chr.) /// A. als Technik der Tora-Exegese in der jüdischen Mystik /// A. als Praxis des Buchstabenrätsels im 16./17. Jahrhundert /// A. als Organisationsprinzip poetischer Texte: Anagramm-Studien von Ferdinand de Saussure (1906-1909) /// A. als serielle Permutation mit begrenztem Ausgangs­material: Unica Zürn, Der Mann im Jasmin (1977), Im Staub dieses Lebens (1980); Oskar Pastior, Anagrammgedichte (1984); Elfriede Czurda, Fälschungen (1987); André Thomkins, Gesammelte Anagramme (1987); Magdalena Sadlon, Man sucht sein Leben lang. 41 Anagramme (1988); Hansjörg Zauner, Zeichen schmelzen Sinn. Anagramme (1990); Neda Bei, ich nagte grade am m. anagrammgedichte (1992); Heidi Pataki, guter ruf / die hl familie. Gedichte und gezeichnete Anagramme (1994); Michelle Grangaud, Formes de l’anagramme (1995); Brigitta Falkner, ABC – Anagramme, Bildtexte, Comics (1992), Bunte Tulpen: Anagramm (2004) /// A. als poetisches Übersetzungsverfahren: Oskar Pastior und Wiel Kusters, Zonder weerga / Seinesgleichen (1986), Oskar Pastior, o du roher iasmin. 43 intonationen zu „Harmonie du soir“ von charles baudelaire (2000)

03. 04. 12 /// J.S.

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Julia Kristeva, „Zu einer Semiologie der Paragramme“, in: Helga Gallas (Hrsg.), Strukturalismus als interpretatives Verfahren, Darmstadt/Neuwied 1972, S. 163-200 /// Peter Wunderli, Ferdinand de Saussure und die Anagramme. Linguistik und Literatur, Tübingen 1972 /// Jean Starobinski, Wörter unter Wörtern. Die Anagramme des Ferdinand de Saussure, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980 /// Hans Bellmer, „Über Anagramme“, in: Unica Zürn, Das Weisse mit dem roten Punkt, Berlin 1982, S. 223 /// Elisabeth Kuhs, Buchstabendichtung. Zur gattungskonstituierenden Funktion von Buchstaben­formationen in der französischen Literatur vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1982 /// Felix Philipp Ingold, „‚Du findest den Sinn‘. Zur Poetik des Anagramms“, in: Merkur 7, 1982, S. 721ff. /// Vladimir Toporov, „Die Ursprünge der indoeuropäischen Poetik“, in: Poetica 13, 1981, S. 189-251 /// ANAGRAMM 88, Freibord. Zeitschrift für Literatur und Kunst, Nr. 65 (3/88), 13. Jahrgang, hrsg. von Gerhard Jaschke, Wien 1989 /// Sabine Scholl, Fehler Fallen Kunst. Zur Wahrnehmung und Re/Produktion bei Unica Zürn, Meisenheim 1990 /// Jean Baudrillard, „Die Vernichtung (Extermination) des Namens Gottes, in: ders., Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991, S. 299-314 /// Renate Kühn, Das Rosenbaertlein-Experiment. Studien zum Anagramm, Bielefeld 1994 /// Carola Hilmes, „Buchstabenrätsel. Unika Zürn und die Kunst der Anagramme“, in: dies. und Dietrich Mathy (Hrsg.), Spielzüge des Zufalls. Zur Anatomie eines Symptoms, Bielefeld 1994, S. 149-162 /// Erika Greber, „Gittergewebe, aus Buchstaben kombiniert: Mythopoetik und Anagrammatik“, in: dies., Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie, Köln/Weimar/Wien/Böhlau 2002

03. 04. 12 /// J.S.