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bluffen

↓ bluffen ↓

Unter bluffen versteht man den Versuch, jemanden durch eine wissentlich falsche Darstellung zu täuschen. Das Bluffen ist ein zielgerichtetes Verfahren, dessen falsche Darstellung eine Fehleinschätzung einer Situation oder des Bluffenden bei seinem Adressaten hervorrufen soll. Von dieser intendierten Fehleinschätzung des Geblufften erhofft sich der Bluffende eine bestimmte Haltung und/oder Handlung des Anderen.

Bluffen ist immer Spiel zwischen Suggestion und Wahrheit. Jedoch ist es nicht nur Spiel, sondern immer auch die Ausübung psychischer Macht über den Geblufften. Dem Geblufften scheint, wenn er dem Bluff auf den Leim geht, die im Bluff dargestellte Wirklichkeit wahr­scheinlicher als die tatsächlichen Verhältnisse. Der Gebluffte entscheidet sich aufgrund dieser Annahme zu einer bestimmten Handlung, die zu seinem Nachteil, aber zum Vorteil des Bluffenden ist – so der Plan des Bluffenden.

Ein Bluff kann außer für Kartenspiele und Betrugsdelikte auch als poetischer Kunstgriff verwendet werden. Dabei ist zu unterscheiden, an wen sich der Bluff richtet. Entweder wird innerhalb einer Erzählung oder einer dramatischen Darstellung eine der beteiligten Figuren von einer anderen geblufft, oder die Gestaltung des Vorgangs folgt selbst dem Vorsatz, potentielle Rezipienten zu täuschen.

Ein Bluff innerhalb der fiktionalen Welt kann entweder so offensichtlich dargestellt werden, dass er dem Rezipienten ersichtlich wird und dieser mitfiebert, ob der Bluff aufgeht, oder aber der Bluff ist als solcher zwar erkennbar, nicht aber seine gesamte Tragweite, so dass der Rezipient am Ende verblüfft wird. Das poetische Potential des Bluffens entfaltet sich jedoch besonders in den Fällen, in denen der Rezipient geblufft werden soll. Hier wird mit seinen Erwartungen gespielt. Dieses Spiel zielt auf ein Finale, in dem die Auflösung stattfindet. Im Verlauf der Handlung werden dem Rezipienten Fakten vorgelegt. Aus der Perspektive des Bluffenden sollen sich diese in der Rezeption zu der von ihm intendierten Wirklichkeit verbinden. Im Finale kommt es dann zu einer Verknüpfung der vorgelegten Fakten, die der angenommenen Wirklichkeit widerspricht. Dem Rezipienten wird erst jetzt erkennbar, dass er getäuscht wurde.

Beim Bluffen als poetischem Verfahren geht es also zunächst darum, die Präsentation der Fakten so zu gestalten, dass der Rezipient dazu gebracht wird, eine bestimmte Haltung gegenüber den Personen und dem Geschehen einzunehmen. Jedoch bestünde für den Geblufften immer auch die Möglichkeit, zu erkennen, was ‚wirklich‘ vorgefallen ist, und somit eine andere als die nahegelegte Haltung einzunehmen.

Der Bluff gelingt, wenn der Gebluffte bis zum Schluss diese Wirklichkeit nicht erkennt. Ent­scheidend für das Gelingen des Bluffens sind die aristotelischen Grundsätze der „Notwendig­keit“ und „Wahrscheinlichkeit“ innerhalb der dargestellten Wirklichkeit. Aus dramaturgischer Sicht erfordert das poetischen Verfahren des Bluffens besonderes Geschick, da die Darstellung immer nachvollziehbar, die Auflösung trotzdem immer überraschend sein muss.

Anders als das Bluffen einer Person innerhalb der Handlung führt das Bluffen des Rezipienten nicht zu einer intendierten Reaktion zu dessen Nachteil (und zum Vorteil des Bluffenden). Mit dem Bluffen wird dem Rezipienten vielmehr das Angebot unterbreitet, im Nachhinein eine zweite Geschichte zu erleben. Nachdem ihm eröffnet wurde, wie die Handlung bis zum Finale hätte verlaufen können, hat er die Möglichkeit, nach der Auflösung eigenständig zu rekonstru­ieren, was innerhalb der erzählten Handlung wirklich vorgefallen ist und wie es möglich war, dass dies bis zum Ende unerkannt blieb. So kann Bluffen als poetisches Verfahren im besten Fall darauf aufmerksam machen, dass Vorstellungen von Wirklichkeit stets auf Konstruktionen beruhen.

30. 05. 11 /// Kolja Unger

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B. als Ermittlungsmethode im Kriminalroman: Friedrich Dürrenmatt, Der Richter und sein Henker (1950/51) /// B. als Spannungselement im Film: The Game (David Fincher 1997), Lucky Number Slevin (Paul McGuigan 2006), Maverick (Richard Donner 1994), Ocean’s Eleven (Steven Soderbergh 2001), The Spanish Prisoner (David Mamet 1997), The Sting (George Roy Hill 1973), Wild Things (John McNaughton 1998) /// offengelegtes B. als Verfahren indirekten Erzählens: Wolf Haas, Das Wetter vor 15 Jahren (2006)

30. 05. 11 /// K.U.

← Forschungsliteratur →

Aristoteles, Poetik, übers. und erl. von Arbogast Schmitt, Berlin 2008 (= Werke in deutscher Über­setzung 5) /// Fred Berger, Ron Halbright, Bluffen als Beispiel geschlechtsspezifischer Auffälligkeit, Zürich 1998 /// Peter Berz, „Die Kommunikation der Täuschung. Eine Medientheorie der Mimikry“, in: Andreas Becker, Martin Doll, Serjoscha Wiemer und Anke Zechner (Hrsg.), Mimikry. Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kultur, Schliengen 2008, S. 2744 /// Christian Gizewski, „Täuschung als Erfolgsprinzip öffentlicher Argumentation. Ein praktisches Erbe antiker Rhetorik“ (http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2007/1723/pdf/RhetErbe.pdf), Berlin 1999 /// Internetauftritt des Deutschen Spielkartenmuseums:http://www.spielkartenmuseum.de/docs/start.html

30. 05. 11 /// K.U.

↑ Postskriptum ↑

Das Bluffen als eine Spielart der Täuschung ist in seiner Spezifik und Wirkung kaum erforscht. Die meisten Beschäftigungen mit dem Bluffen stammen aus dem Bereich der Karten- und Gesellschafts­spiele. Das Bluffen wird hier als eine Kunst verstanden (Definition Spielkartenmuseum). Trotz einer Erweiterung der Spielerfreiheit, die daraus resultiert, gelten weiterhin Spielregeln, von denen auch manche die Ausübung des Bluffens einschränken. So etwa das Verbot des ‚Mundbluffs‘ in vielen Kartenspielregeln durch den Grundsatz: ‚Gesprochenes ist Wahres‘.

Die Übertragung auf Täuschungsversuche außerhalb des Kartenspiels bedeutet einen Paradigmen­wechsel in der Beurteilung dieser. Bei verwandten bzw. im Bluffen beinhalteten poetischen Verfahren wie dem Lügen, dem Vorenthalten oder der Manipulation stehen moralische Bewertungskriterien im Vordergrund. Das Bluffen hingegen wird vielmehr anhand von rhetorischen und strategischen Kriterien bewertet. Hinter der zunehmenden Popularität des Bluffens im 19. und 20. Jahrhundert lässt sich auch eine allgemeine Abwendung von metaphysischen Gesetzen vermuten (‚Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen!‘).

30. 05. 11 /// K.U.

nörgeln

↓ nörgeln ↓

Nörgeln meint ein griesgrämiges Üben von Kritik an Sachverhalten, Dingen oder Menschen. Ob als Teil eines konstruktiven Gedanken- oder Meinungsaustausches oder als kommunikativer Selbstzweck: Nörgeln ist prinzipiell negierend. Durch die Verneinung wird der nicht-akzeptierende Charakter des Nörgelns bestimmt. Das unter Umständen ungefragte Äußern dieser Nicht-Akzeptanz bildet die Grundlage des Nörgelns. Die drei Faktoren, die beim Nörgeln in unterschiedlichen Gewichtungen immer vorhanden sind und sich zudem auch überlagern können, sind 1) der Nörgler, 2) der Inhalt (der Gegenstand) des Nörgelns und 3) das (reale oder imaginäre) Gegenüber des Nörglers. Der Nörgler, der grundsätzlich nicht von seiner Position abweicht, setzt sich mit dem Gegenstand, der auch das Gegenüber sein kann, mürrisch und meist in wiederholt vorgetragenen Stellungnahmen auseinander. Dabei kann das Gegenüber entweder passiv zum Zuhörer oder aktiv zum Gesprächspartner werden. Als Gesprächspartner kann das Gegenüber entweder zum Mitnörgler oder aber zu einem den Gegenstand bejahenden Gegenspieler des Nörglers werden.

Ist das Gegenüber nur ein passiver Zuhörer, dem diese Rolle auch aufgezwungen werden kann, handelt es sich um Nörgeln als kommunikativer Selbstzweck. Der Selbstzweck besteht darin, dass die Kommunikation nicht auf einen Dialog hinausläuft, sondern ihren Zweck in der bloßen Unmutsäußerung zu verwirklichen scheint. Bei dieser Art des Nörgelns ist der Gegenstand häufig etwas, auf das der Nörgler keinen Einfluss hat, wie zum Beispiel das Wetter. Das Äußern der Unzufriedenheit verschafft gegebenenfalls Befriedigung und Lust, wobei die Motivation des Nörgelns nicht nur im Äußern des Frustes zu liegen braucht, sondern auch darauf abzielen kann, Aufmerksamkeit zu erregen oder sogar Bestätigung zu erfahren (zum Beispiel wenn der passive Zuhörer zum aktiven Mitnörgler wird).

Ist das Gegenüber ein aktiver Gesprächspartner, der eine andere, also eine positive oder zumindest überlegtere Haltung zum Gegenstand hat als der Nörgler, kann Nörgeln zum Teil eines konstruktiven Schlagabtausches werden. Dabei zeichnet den Nörgler aus, dass er sich nicht für die Meinung des Gegenübers interessiert – und nicht einmal zwingend für den Gegenstand selbst. Stets reagierend und tendenziell nicht impulsiv, negiert er konsequent die Haltung des Gegenübers, aber nicht durch simple Kontradiktion, sondern indem er die Argumente des Gesprächspartners aufgreift, ergänzt, umdreht oder verschiebt. Der Nörgelnde hat seinem Gesprächspartner gegenüber dadurch eine gewisse Überlegenheit, dass er außer dem Negieren selbst kein Ziel zu verfolgen braucht.

So unterschiedlich die genannten beiden Arten des Nörgelns auch sein mögen, in beiden Fällen handelt es sich zunächst einmal um Sprechakte, die gegebenenfalls noch durch Gestik und Mimik unterstützt werden. Beim Schreiben stellt sich die Frage, wie diese Sprechakte durch Schreibakte in Textereignisse, die nach wie vor als Nörgeln identifiziert werden können, zu übersetzen sind. Das vermeintliche Manko kann sich dabei als Vorteil herausstellen: Schreibend nörgeln – oder erfundene Figuren nörgeln lassen – impliziert einen Abstand zur Unmittelbarkeit der Rede, der genutzt werden kann, um die möglichen Nuancen des Nörgelns gezielt auszutesten und schließlich zur Wirkung zu bringen.

15. 03. 11 /// Julian Brink

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N. als Existenzmodus: Fjodor Dostojewskji, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) /// N. als Gedankenaustausch: Karls Kraus, Die letzten Tage der Menschheit (1922) /// N. als Unterhaltung: Olli Dittrich, Dittsche – Das wirklich wahre Leben (Fernsehsendung seit 2004) /// N. als genussvolle Zelebration: Eric T. Hansen, Nörgeln! Des Deutschen größte Lust (2010)

15. 03. 11 /// J.B.

← Forschungsliteratur →

Franz Haas, „Weltfreunde und Nörgler: Von der Not des Expressionismus in Österreich“, in: Wendelin Schmidt-Dengler u.a. (Hrsg.), Literaturgeschichte: Österreich-Prolegomena und Fallstudien, Berlin 1995, S. 227-239 /// Manfred Kraus, Die Versprachlichung der um „nörgeln“ gelagerten Unmutsäußerungen in der schwäbischen Mundart. Studien zur sinnerschließenden Leistung des Dialektes in einem Affektbereich, München 1974 (3 Bde.) /// Gerhard Melzer, Der Nörgler und die Anderen. Zur Anlage der Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus, Berlin 1972

15. 03. 11 /// J.B.

↑ Postskriptum ↑

Ich werde den Eindruck nicht los, dass Nörgeln, was den Tonfall, die Ernsthaftigkeit oder die Wortwahl betrifft, einen enormen Spielraum offen lässt. Das heißt, dass Nörgeln so negativ und ernstgemeint sein kann, dass der Nörgler allen Zuhörenden nur als unsympatisch erscheinen kann, als jemand, der nichts Gutes an etwas findet und durch seine negative Haltung schlechte Stimmung verbreitet. Auf der anderen Seite kann Nörgeln durchaus humorvoll sein, indem der Gegenstand zwar immer noch negiert wird, aber mit Witzen oder lustigen Vergleichen, die den Nörgler eher sympathisch erscheinen lassen, eher zum mitnörgeln einladen und schlechte Stimmung vertreiben.

Vielleicht lässt sich das am besten mit bewusstem und unbewusstem Nörgeln beschreiben. Jemand der unbewusst nörgelt, erliegt der Illusion, Kritik zu üben, indem er das ausspricht, was ihn an dem Inhalt nervt, als ob die Möglichkeit bestünde, dass sich dadurch etwas ändert. Jemand der bewusst nörgelt weiß, dass der Gegenstand nicht veränderbar ist, aber auch, dass das humorvolle Nörgeln die Stimmung hebt und alles erträglicher macht. Das kann man auch in einer Veränderung des Tonfalls bemerken: Unbewusstes Nörgeln verleitet eher zu einem klagenden oder jaulenden Tonfall, während bewusstes Nörgeln eher einen ironischen Tonfall mit sich bringt. Wichtig ist: Der Gegenstand wird durch das Nörgeln niemals in irgendeiner Art und Weise positiv, aber der Umgang mit dem Gegenstand kann durch das bewusste, humorvolle Nörgeln erleichtert werden.

15. 03. 11 /// J.B.

schimpfen

↓ schimpfen ↓

Schimpfen bezeichnet einen aggressiven Sprechakt, der sich aus dem Affekt heraus unverhohlen subjektiv und unsachlich gegen ein Objekt, einen Umstand oder eine Person sowie gleichzeitig an einen realen oder imaginären Zuhörer richtet. Der Schimpfende schürt die Diskrepanz, in der er zu dem Umstand, der Person oder der Sache steht. Wird Schimpfen aus dem Bereich des Mündlichen ins Geschriebene übertragen und als Schreibverfahren verstanden, geht es darum, die Dynamik der mündlichen Rede im Schriftlichen nachzuvollziehen bzw. gezielt zu produzieren, wobei sie auch als Motivation für den Schreibprozess selbst aufgefasst und genutzt werden kann. Das Schimpfen kann dabei so gestaltet werden, dass es von einer Figur innerhalb eines Textes oder von einem Erzähler oder einer sonstigen Instanz vollzogen wird – bis hin zum Text selbst, der als schimpfender inszeniert werden kann.

Im Alltagsgebrauch handelt es sich beim Schimpfen um einen verbalen, lauten Vorgang, bekräftigt durch ausgeprägte Mimik (zusammengezogene Augenbrauen) und Gestik (geballte Fäuste). Er schafft einen Freiraum für die Meinung und Emotion des Schimpfenden (sich Luft machen). Die Energie dieser radikalen Vorwärtsbewegung kann zu großer Kreativität führen. Entsprechend oft finden sich in Schimpftiraden Neologismen. Leitend ist dabei oft auch die Lust am Überschreiten von Grenzen, Konventionen und gesellschaftlichen Tabus.

Der informelle Gestus und die Bindung an einen Sprecher bleiben auch für das Schimpfen als Schreibverfahren typisch. Die für das Schimpfen kennzeichnende Dynamik wird erreicht durch dezidierte Abwehr jeglicher Widerrede (wenige Unterbrechungen des Wortflusses), schnelle, wortreiche Assoziationen sowie Variationen ein und derselben Idee, die einen Unterhaltungswert bergen können. Dabei ist die Ausgestaltung im Detail nicht nur vom Schimpfgegenstand, sondern mindestens so sehr von der Akzentuierung durch die Sprecherposition abhängig.

Das poetische Potential des Schimpfens liegt in einem Spannungsverhältnis begründet: dem Selbstverlust des Schimpfenden beim gleichzeitigen Versuch der Selbstbestätigung im Akt. Mit einem Selbstverlust hat man es dann zu tun, wenn sich der Akt des Schimpfens verselb­ständigt: Die Aneinanderreihung von immer neuen Worten führt allmählich dazu, dass das Schimpfen sich nicht nur von den gemeinten Tatsachen (um die es dann letztlich nicht mehr geht), sondern auch von einer Sprecherinstanz löst, die sich noch als Herr der Lage wähnen könnte. Selbstbestätigung wiederum heißt, dass das Schimpfen gleichzeitig ein Akt ist, der zumindest der Intention nach zu einer radikalen Klärung einer Situation – und damit auch des Sprecherstandpunktes – durch eindeutige Beurteilung führen sollte. In dem Maße jedoch, wie die Sprache sich (etwa in einer Schimpftirade) verselbständigt, läuft das Schimpfen auch Gefahr, etwaige Zielsetzungen zu unterlaufen, was wiederum ein gesteigertes Verlangen nach Selbstbestätigung und Abgrenzung gegenüber dem anderen durch das Schimpfen mit sich bringen kann.

In diesem dynamischen Wechselverhältnis liegt auch der oft redundante, aufzählende Charakter des Schimpfens sowie der Steigerungswille des Schimpfenden, sich selbst im Akt zu über­treffen, begründet. Entsprechend sind Übertreibungen, Elative, Ironie und Verabsolutierungen bis hin zur markierten Sprachlosigkeit sehr häufige Stilmittel. Beim Schreiben kann dieses Wechselverhältnis gezielt zum Einsatzpunkt der poetischen Arbeit genommen werden, wobei der Vorteil des Schreibprozesses gegenüber der mündlichen Rede darin zu sehen ist, dass das Schreiben eine gezielte Überarbeitung des Affektes und ein Spiel damit möglich macht.

12. 01. 11 /// Antonia Kalitschke

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S. als lebensbejahender sprachlicher Kraftakt in der Renaissancekultur: François Rabelais, Gargantua und Pantagruel (1552) /// S. als Selbstbeschimpfung: Fjodor Dostojewskji, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) /// Konzeptionelles Schimpfen: Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887) /// S. als Performance: Peter Handke, Publikumsbeschimpfung (1966) /// S. als poetische Produktivkraft: Rolf Dieter Brinkmann, Wörter Sex Schnitt (1973) /// S. als komische Polemik: Thomas Bernhard, Alte Meister (1985) /// S. als Pauschalisierung und Sprachexperiment: Sibylle Lewitscharoff, Apostoloff (2009)

12. 01. 11 /// A.K.

← Forschungsliteratur →

Michael Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (russ. 1965), Frankfurt am Main 1998 /// Harold Bloom, Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung (amer. 1973), Basel 1995) /// Karin Büchle, „‚Schimpfen ist gesund‘ oder ‚Hunde, die bellen, beissen nicht‘ – Schimpfen in verschiedenen Sprachen und Kulturen“, in: Bern Spillner (Hrsg.), Nachbarsprachen in Europa, Frankfurt am Main 1994, S. 189-192 /// Judith Butler, Hass Spricht. Zur Politik des Performativen (amer. 1997), Berlin 1998 /// Alois Senti, „Vom Fluchen und Schimpfen“, in: Terra plana 1 (1981), S. 41-46 /// Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main 2006

12. 01. 11 /// A.K.

↑ Postskriptum ↑

Schimpfen grenzt sich vom Vorgang des Beschimpfens und des Schimpfens über etwas ab. Wendet sich beim Beschimpfen der Autor, der Text oder die Figur direkt an sein Gegenüber, meist an eine Person, wodurch gleichzeitig eine klar umrissene Kommunikationssituation etabliert wird (charakteristisch ist zudem eine punktgenaue Artikulation in Form eines Schimpfwortes), beinhaltet schimpfen über etwas nicht unbedingt einen in der Schimpfsituation real präsenten Gegner bzw. Angriffspunkt. Schimpfen als solches hingegen beschreibt allein einen negativ stimulierten Akt der Meinungskundgabe, der sich von einem beschimpften Gegenstand auch durchaus lösen kann. Einen Hinweis auf die Konzentration auf das Schimpfen als Vorgang gibt die seltene Verwendung des Substantivs „Schimpf“ (außer in Schimpf und Schande), viel gängiger ist jedoch die „Beschimpfung“.

Die Selbstbeschimpfung ist eine suchende Kreisbewegung. Durch den Selbstverlust im Akt birgt es die Möglichkeit, sich durch den Inhalt (man ist sich das eigene Schimpfobjekt) und die Form einzufangen. Gelänge dies, wäre der Schimpfakt beendet und somit kein Schimpfen mehr.

Liebevolles Schimpfen ist eine ironische Form des Schimpfens und beinhaltet die Möglichkeit der Nichterkennung. Es bedarf eine Form der Kennzeichnung im Schreibprodukt, wenn der Autor eine Eindeutigkeit in seiner Intention beabsichtigt.

Der Leser: Der Akt des Schimpfens kann durch den Leser gewöhnlich schnell identifiziert werden. Möglicherweise provoziert ihn die Radikalität des Schimpfens oder bewegt ihn durch seine Dynamik. Die Distanz des Geschriebenen hält dem Leser jedoch viele Lektürepositionen offen, wie z.B. die amüsierte, vermittelnde, verständnislose.

12. 01. 11 /// A.K.

reduzieren

↓ reduzieren ↓

Als Schreibverfahren heißt reduzieren, in eine Vorlage eingreifen, um diese in einer bestimmten Hinsicht zu verringern. Eine Reduktion kann auf der semantisch-assoziativen, der grammatika­lisch-syntaktischen oder der graphematisch-materiellen Ebene angestrebt werden. Im Prozess selbst kann sie als Herausstellung der wichtigsten inhaltlichen Aussagen, als Befreiung von unnötigem Beiwerk oder als Entschlackung der schriftbildlichen Erscheinungsweise verstanden werden. Dabei kann die Vorlage sowohl ein Fremdtext als auch selbstproduziertes Material sein.

Abhängig von der Art des Eingriffs können folgende Grundverfahren des Reduzierens unter­schieden werden: konstruktives Reduzieren und destruktives Reduzieren. Diese Unterscheidung kann mögliche Tendenzen eines Schreibprozesses benennen, beschreibt jedoch nicht erschöp­fend alle Formen reduzierender Verfahren.

Konstruktives Reduzieren lässt sich auf die Vorgaben des Referenzmaterials ein und respektiert dessen Eigenlogik. Die relevanten Momente, Motive und Aussagen des Materials werden durch den Eingriff möglichst deutlich herausgestellt. Der Eingriff zielt darauf ab, Interpretations­möglichkeiten, die als überflüssig oder irreführend betrachtet werden, auszuschalten. Im Idealfall bleiben alle notwendigen Elemente erhalten. Der Referenztext behält seine Autorität. Die Arbeit ist darauf ausgerichtet, Komplexität zurückzunehmen, um auf diese Weise zu einer Steigerung der Verständlichkeit zu gelangen.

Destruktives Reduzieren respektiert die Eigenlogik der schriftlichen Vorlage nicht. Der vermin­dernde Eingriff in den Korpus des Referenzmaterials erfolgt primär mit der Absicht, einen neuen Text mit einer eigenen Logik herzustellen. Der Referenztext behält seine Autorität nicht. Die Destruktion zielt somit auf den Referenztext, nicht auf den eigenen.

Das poetische Potential des Reduzierens entfaltet sich allerdings vornehmlich dann, wenn konstruktives Reduzieren in destruktives umschlägt und umgekehrt. So kann eine übersteigerte Form von Verständlichkeit eine irritierende, unkontrollierbare Bedeutungsoffenheit erzeugen, während umgekehrt der mutwillige Zugriff auf den Referenztext nicht nur für den neuen Text, sondern auch für die Vorlage zu einer produktiven, weiterführenden (und in diesem Sinne konstruktiven) Aktualisierung führen kann. Entscheidend für die Entfaltung solcher Potentiale im Schreibprozess sind die Lektüreerkenntnisse im Prozess des Schreibens selbst. So ist es wichtig, dass der Schreiber sich selbst immer wieder in die Rolle des Lesers versetzt, und zwar in die Rolle des Lesers von zwei Texten: des gelesenen und des neu geschriebenen. Provozierte Unschärfen als Ergebnisse von Reduktionsprozessen fordern Lektüren heraus, die hoch individualisiert sind.

14. 08. 10 /// Kay Steinke

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R. als Sprachform: Stifter, Der fromme Spruch (1867) /// R. als Entleeren des Schriftbildes: Stéphane Mallarmé, Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (1897) /// R. als stilistische Entschlackung: Ernest Hemingway, Old Man at the Bridge (1938) /// R. als Verdichten und Auslassen: Paul Celan, Sprachgitter (1959) /// R. als Verfahren der Textkürzung: Samuel Beckett, Imagination morte imaginez (1965) /// R. als Verfahren der Verkleinerung: Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1932-1939) /// R. als Imitation und Verfremdung des Stils von Groschenromanen: Elfriede Jelinek, Die Liebhaberinnen (1975) /// R. als Verknappen von Inhalt und Form: Raymond Carver, Will You Please Be Quiet, Please? (1976) /// R. als selbstverstandene Endstufe der Dichtung: Kay Steinke, Die Entschleunigung der guten Nachricht (2010)

14. 08. 10 /// K.S.

← Forschungsliteratur →

Helmut Heißenbüttel, „Reduzierte Sprache. Über einen Text von Gertrude Stein (1955)“, in: Über Literatur, Olten 1966 /// Klaus Ramm, Reduktion als Erzählprinzip bei Kafka, Frankfurt 1971 /// Walter Weiss, „Stifters Reduktion“, in: Johannes Erben und Eugen Turnher (Hrsg.), Germanistische Studien, Innsbruck 1969 /// Gabriele von Malsen-Tilbroch, Repräsentation und Reduktion: Strukturen späthöfischen Erzählens bei Berthold von Holle, München 1973 /// Hartmut Reinhardt, „Das kranke Subjekt: Überlegungen zur monologischen Reduktion bei Thomas Bernhard“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Geissen 1976 /// Karl-Heinz Köhler, Reduktion als Erzählverfahren in Heissenbüttels Textbüchern: Anspruch, theoretische Begründung und erzählerische Leistung von Heissenbüttels Reduktionsformen, Frankfurt 1978 /// Elisabeth Walbert, Prinzipien der Reduktion im Werk Wilhelm Raabes, Hochschulschrift: Bonn, Univ., Diss., 1980 /// Renate Brosch, Short Story. Textsorte und Leseerfahrung, Trier 2007 /// Sandra Berchtel, Die Kunst der Reduktion. Minimalismus in Literatur und Film, Saarbrücken 2008 /// Klaus Schubert, Konstruktion und Reduktion, in: Hans P. Krings und Felix Mayer (Hrsg.), Sprachenvielfalt im Kontext von Fachkommunikation, Übersetzung und Fremdsprachenunterricht, Berlin 2008, S. 209-219

14. 08. 10 /// K.S.

↑ Postskriptum ↑

Reduzieren, wie es hier beschrieben wird, unterscheidet sich vom Verständnis und Gebrauch des Wortes in Bildender Kunst, Architektur, Design und Musik. Dort meint es weniger das reduzierende Eingreifen in eine bestehende Vorlage als vielmehr eine Reduktion der Formen gegenüber bestehender Formkonventionen oder der Natur. In Minimal Art, Minimal Music und Minimal Design, die ihren Ursprung in den USA der 60er Jahre haben, findet sich in den meisten Fällen eine Reduktion auf Grundstrukturen und deren serielle Anordnung. So verstanden rückt das Reduzieren näher an Begriffe wie Verdichten, Minimalisieren, Vereinfachen, Geometrisieren oder Abstrahieren als an Streichen, Redigieren etc., wie in dem oben verfassten Artikel beschrieben.

Beide Formen des Reduzierens ließen sich jedoch zusammendenken, wenn man sie als Konzentration auf das Wesentliche verstehen möchte. So lassen sich einige Skulpturen Constantin Brancusis, auf den sich auch die amerikanischen Minimalisten beziehen, als reduzierende Kommentare zu eigenen oder fremden Werken lesen: Der Kuss (1907) kann als reduzierendes Zitat der gleichnamigen Skulptur von Auguste Rodin von 1886 verstanden werden und die zunehmende Reduktion hin zur Eiform von Schlafende Muse I (1909) über Prometheus (1911), Der erste Schrei (1913), Das Neugeborene (1915) bis zu Der Weltanfang (1920) als reduzierender Kommentar auf das eigene Werk. In beiden Fällen handelt es sich jedoch nicht um ein reduzierendes Eingreifen, wie im Artikel beschrieben, da das jeweilige Referenzwerk weiterhin in seiner Form bestehen bleibt. Diese Tatsache macht jedoch die Reduktion erst sichtbar, anders als bei der Veröffentlichung eines reduzierten Textes, bei dem die Vorstufen nicht mit veröffentlicht werden und über ein reduzierendes Schreibverfahren nur spekuliert werden kann.

14. 08. 10 /// K.S.

sammeln

↓ sammeln ↓

Sammeln meint das wiederholte Zusammentragen verstreuter Elemente, die unter einem Gesichtspunkt vereinbar sind bzw. vereint werden. Um in einer Sammlung zusammengetragen zu werden, müssen die einzelnen Elemente sich in einer Hinsicht gleichen und dennoch voneinander unterscheidbar bleiben. Erst das Kriterium der Differenz macht etwas zu einem relevanten Bestandteil einer Sammlung.

Die Auswahl, was potenziell zur Sammlung gehört und was nicht, nimmt eine Einteilung der Wirklichkeit vor. Das Prinzip, nach dem die Auswahl erfolgt, muss jedoch nicht unbedingt im Voraus artikulierbar sein; es kann erst im Verlauf des Sammelns entstehen oder sich grundsätzlich ändern. Hierfür ist das Moment der Anschauung von Bedeutung: Durch das wiederholte Sichten kann die Sammlung auf den Sammelnden zurückwirken. Mit dem Sichten ist auch das Ordnen der Sammlung verbunden, allerdings können die Ordnungs­prinzipien nur temporäre Gültigkeit beanspruchen, da sich die Sammlung mit jedem hinzugefügten Teil verändert. So entwickelt jede Sammlung eine unberechenbare Eigendynamik und bleibt stets fragil. Wenn das vereinende Prinzip nicht mehr die gesamte Sammlung verbinden kann und an Gültigkeit verliert, droht sie auseinanderzufallen. Deshalb gehört das stän­dige Bemühen, die bereits bestehende Sammlung zusammenzuhalten, ebenso zum Sammelprozess wie das Sammeln selbst.

Eine Sammlung ist potenziell unabschließbar, da sie unendlich erweitert werden kann. Mit der Entscheidung für eine Publikation oder Ausstellung wird eine Zäsur im Sammelprozess gesetzt, die von einer zuvor nur temporären Ordnung Gültigkeit einfordert. Das Sammeln kann jedoch über den Zeitpunkt der Publikation hinweg fortgesetzt werden, indem das bereits gesammelte Material in eine neue Sammlung mit veränderten und sich ändernden Prinzipien eingeht.

Für den Schreibprozess sind zwei grundsätzliche Formen des Sammelns relevant: dastransitorische Sammeln und das konservierende Sammeln, wobei Mischformen beider Arten denkbar sind. Das transitorische Sammeln bildet im Schreibprozess nur ein Durchgangs­stadium. Gesammelt werden Dokumente und Gegenstände, die nicht in ihrem Sosein von Bedeutung sind, sondern als Inspiration oder Materialgrundlage für ein späteres Schreiben dienen. Das konservierende Sammeln hingegen will die einzelnen Elemente in ihrem Sosein bewahren, mit der Überzeugung, dass sich in das Wie ihrer Gestaltung die Orte und Zeiten eingeschrieben haben, aus denen sie ursprünglich stammen. So werden die Gegenstände zu Bedeutungs­trägern, die auf etwas verweisen, das nicht (mehr) da ist: Entlegene Orte und vergangene Zeiten werden durch die Sammlung an einem Ort zusammengebracht.

Durch das Zusammenkommen wird ein In-Bezug-Setzen der Einzelteile oder eine vergleichende Perspektive möglich. Die dennoch herrschende Unverbundenheit der einzelnen Bestandteile einer Sammlung bildet darüber hinaus ein sich ständig wandelndes Netzwerk an möglichen Bedeutungen.

18. 06. 10 /// Johanna Stapelfeldt

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S. als Bewahren oraler Kulturtechniken: Johann Gottfried Herder, Volkslieder. Nebst untermischten anderen Stücken (1778-1779); Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von Achim von Armin und Clemens Brentano (1806-1808); Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen (1812-1815); Peter Rühmkopf, Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund (1967) /// Der Sammler als literarische Figur: Honoré de Balzac, Vetter Pons (1847); Konstantin Waginow, Bambocciade (1931) /// S. als kulturwissenschaftliche Methode: Aby Warburg, Der Bilderatlas MNEMOSYNE (entst. 1924-1929) /// S. als Werkprinzip: Walter Benjamin, Das Passagen-Werk (insb. H [Der Sammler]) (entst. 1927-1940) /// S. als Erinnerungsarbeit: Walter Kempowski, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch (1993-2005)

18. 06. 10 /// J.S.

← Forschungsliteratur →

Jean Baudrillard, Die Sammlung, in: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a. M. 1991, S. 110-136 /// Wolfgang Schlüter, Walter Benjamin. Der Sammler & das geschlossene Kästchen, Darmstadt 1993 /// Werner Muensterberger, Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, Frankfurt a. M. 1999 /// Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt a. M. 2002 /// Karl Heinz Bittel, Beschreibung eines Kampfes. Über die Entstehung von Walter Kempowskis ‚Echolot’, in: Carla Ann Damiano, Jörg Drews und Doris Plöschberger (Hrsg.),„Was das nun wieder soll?“ Von ‚Im Block’ bis ‚Letzte Grüße’. Zu Leben und Werk Walter Kempowskis, Göttingen 2005, S. 137-149 /// Ilja Kabakow und Boris Groys, Müll, in: dies., Die Kunst des Fliehens. Dialoge über Angst, das heilige Weiß und den sowjetischen Müll, München 2007, S. 105-116 /// Boris Groys, Logik der Sammlung, München 2009

18. 06. 10 /// J.S.

↑ Postskriptum ↑

In der vorgenommenen Beschreibung des Sammelns als poetischem Verfahren bleibt die von Manfred Sommer als ökonomisch bezeichnete Form des Sammelns unberücksichtigt. Im Gegensatz zum ästhetischen Sammeln, wenn man sich an Sommers Terminologie hält, ist beim ökonomischen Sammeln das Kriterium der Differenz irrelevant. Da es in dieser Form nur um die Anhäufung gleicher Dinge und deren Verwertung geht, so Sommer, steht nicht die Ästhetik des Bewahrens im Vordergrund, sondern die Ökonomie des Verschwindens (Sommer 2002).

Ich bin allerdings der Ansicht, dass alle für den Schreibprozess relevanten Formen des Sammelns auf das ästhetische Sammeln als Grundform zurückgehen, auch wenn in dem oben verfassten Artikel eine Trennung zwischen transitorischem und konservierendem Sammeln forciert wurde. Auch für das von mir benannte transitorische Sammeln ist einerseits das Kriterium der Differenz von Bedeutung, andererseits ist auch hier in den meisten Fällen eine bewahrende Absicht zu unterstellen. Der Unterschied zum konservierenden Sammeln ist dann eher in der Form des Bewahrens zu suchen. Denn während die Sammlung als Materialgrundlage für einen späteren Schreibprozess nicht in der jeweils geschlossenen Form der einzelnen Elemente wirksam wird, geht es beim konservierenden Sammeln, wie bereits erwähnt, darum die Dinge in ihrem Sosein zu belassen.

Die etwas umständlich wirkende Bezeichnung „Elemente“ versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass nicht nur Gegenstände Bestandteil einer Sammlung werden können, sondern auch Bilder und Texte, deren Bedeutung nicht auf einen materiellen Träger zurückzuführen ist, sondern auf ihren „Inhalt“. Dieser Umstand ist vor allem für die mediale Übertragung des Verfahrens wichtig. Denn Elemente an einem Ort zusammenzutragen kann auch heißen, durch das Internet zu surfen, Sätze zu kopieren und in einem Order oder einer Word-Datei zusammenzustellen.

18. 06. 10 /// J.S.

insistieren

↓ insistieren ↓

Insistieren bezeichnet das Bestehen auf etwas. Die Valenz des Verbs setzt ein insistierendes Subjekt und ein Objekt voraus. Jemand besteht auf einer sprachlich gefassten Meinung, Feststellung oder Forderung. Subjekt des Insistierens kann sowohl der Autor, der Text oder eine Figur sein. Die Behauptung richtet sich an ein Gegenüber, selbst wenn dieses nur implizit vorhanden sein sollte.

Insistieren und Verweigern bilden komplementäre Verhaltensweisen: Das Insistieren potenziert sich in dem Maß wie sich das Gegenüber verweigert und umgekehrt. Auf Möglichkeiten wie Verhandlung und Kompromissfindung wird in diesem Fall verzichtet. Die Notwendigkeit zu insistieren lässt nicht selten auf ein Ungleichgewicht im Machtverhältnis der Konfliktparteien schließen. Eine reflektierende Position, die wie ein Vermittler Ausgesagtes und Anlass prüft, bleibt dann dem Leser vorbehalten.

Insistieren ist ein Akt, der primär im Mündlichen stattfindet. Wird insistierend geschrieben, handelt es sich oft um eine Simulation mündlicher Rede. Dies zeigt sich unter anderem an Idiom, rhetorischen Volten, effektorientierter Interpunktion oder Hervorhebung durch Sperrdruck und Kursivsetzung. Ferner sind Aspekte wie Wiederholung und der gehäufte Gebrauch des gleichen Stilmittels (z. B. Ellipse) von Bedeutung.

Als Schreibverfahren bewirkt Insistieren eine emotionale Aufladung der dargestellten Situation. Über den Verlauf des Konflikts entscheidet der Gestus, mit dem insistiert wird. Verschiedene Formen sind denkbar: Wird eine Aussage vielfach umformuliert oder wortgetreu wiederholt? Je eher dabei redundant verfahren wird, desto stärker verringert sich das Tempo der Informationsvergabe. Jedoch kann auch ein gegenteiliger Effekt zu Stande kommen. Sprache entwickelt durch Insistieren eine eigene Dynamik. Wir können uns, ein Text kann sich sprichwörtlich ‚in Rage reden‘. So kann Insistieren die Textdynamik be- oder entschleunigen. Ferner bestimmen Ernsthaftigkeit, ironische Brechung und Humor den Gestus. Insistieren entwickelt ein Überzeugungspotential, das mit Hilfe weniger Argumente nahezu unhaltbare Positionen verteidigen kann. Bei politischer Propaganda können abwegige Aussagen durch Insistieren salonfähig werden, umgekehrt können sinnvolle Aussagen durch Insistieren mit der Zeit immer absurdere Züge annehmen.

Sein poetisches Potential entfaltet das Verfahren dort, wo der verhandelte Gegenstand an Wichtigkeit verliert und die Sprache selbst Raum gewinnt. Hier verschiebt sich der Fokus von einer Bezugnahme auf außersprachliche Wirklichkeit hin zu einem primär sprachlichen Akt. Zudem tritt hierbei die affektive Dimension von Sprache in den Vordergrund. Insistieren ist eine Möglichkeit, schreibend Affekte (wie Zorn, Lust, Intensität etc.) performativ zur Darstellung zu bringen, ohne dass diese Affekte zum Thema werden müssen. Auch durch Akzentverschiebungen dieser Art kann sich Insistieren als poetisches Verfahren auszeichnen.

04. 05. 10 /// Florian Balle

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I., Verweigern und Eigendynamik: Thomas Bernhard, Gehen (1971) /// argumentatives I.: Charles Dickens, Hard Times (1853) /// I. als Ausdruck der Liebe: Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther (1774) /// I. als Vorwurf: Franz Kafka, Das Urteil (1913) /// I. als Überzeugung: Jazz-Standart Baby, it’s cold outside zum Beispiel von Ray Charles und Betty Carter (1961) /// I. als Identitätsbildung: Max Frisch, Stiller (1954) /// insistierendes Durchspielen eines Themas: Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit (1952); ders., Sansibar oder der letzte Grund (1957); ders.,Winterspelt (1974) /// I. einer Zuschreibung: Eugène Ionesco, La cantatrice chauve (1950)

04. 05. 10 /// F.B.

← Forschungsliteratur →

Wilhelm Franke, Insistieren. Eine linguistische Analyse, Göppingen 1983 /// Michael Schecker, Insistieren als Typus strategischer Kommunikation, in: Franz Hundsnurscher, Edda Wiegand (Hrsg.), Dialoganalyse, Tübingen 1986 /// Ria Endres, Am Ende angekommen. Dargestellt am wahnhaften Dunkel der Männerporträts des Thomas Bernhard, Frankfurt am Main 1980 /// Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape, Rhetorik und Stilistik, Berlin 2010

04. 05. 10 /// F.B.

↑ Postskriptum ↑

1. … Wiederholung und Interpunktion sind dabei besonders zu beachten. Zu beachten!

2. In dem Roman Gehen von Thomas Bernhard hat das Insistieren einen großen Stellenwert. Karrer besteht im Rustenschacherschen Laden darauf, dass es sich bei den angebotenen Hosenstoffen umtschechoslowakische Ausschussware handelt, während Rustenschacher sie als erstklassige englische Stoffe insistierend verteidigt. Letztlich ist es diese Konstellation, die das Verrücktwerden Karrers auslöst, bis er nach Steinhof gebracht wird.

3. Doch auch Oehlers Bericht darüber, dem er einen nahezu konturlosen Erzähler gibt, ist interessant: Er kommt wiederholt darauf zu sprechen, dass Karrer nach Steinhof hinauf gekommen ist und wird sich im Verlauf immer sicherer, dass Karrer nie wieder entlassen wird. Obwohl die Voraussetzungen sich nicht geändert haben, scheint ihm sein gedankliches Insistieren diese Einsicht immer stärker zu suggerieren.

4. Im Roman Stiller von Max Frisch entfaltet sich durch Insistieren die Identitätsproblematik. Wir werden eingeführt von einer Figur, die behauptet, nicht der zu sein, für den sie von allen gehalten wird: Ich bin nicht Stiller! Meinen wir im Folgenden, es tatsächlich mit Stiller zu tun zu haben, so hat sich die Figur durch ihr Insistieren bereits eine neue Identität geschaffen. Stiller ist eine Person, von der die Figur viel weiß, die sie jedoch distanziert betrachten kann – hier geht es um die Frage, inwiefern individuelle Entscheidungen den Prozess der Identitätsbildung bestimmen.

5. Bei Ionescos Anti-Stück La cantatrice chauve (Die kahle Sängerin) wird die Zuschreibung englisch so oft benutzt, dass es den Aussagewert zunächst steigert und dann inflationär hintertreibt. Das Adjektiv verliert seine Verweisfunktion und wird für den Leser zum Running Gag oder zu einem rein phonetischen Rauschen.

04. 05. 10 /// F.B.

visualisieren

↓ visualisieren ↓

Visualisieren meint die Verwendung von Schrift in Hinblick auf eine Bildwirkung. Schrift dient als Zeichenträger für Sprache und besitzt zugleich eine Eigenrealität. Da Sprachhandlungen grundsätzlich in einem Nacheinander stattfinden, Schrift jedoch räumlich ist, entsteht ein Widerspruch zwischen der simultan wahrnehmbaren Schrift und der in zeitlicher Abfolge zu deutenden Sprache, für die sie das Medium ist. Visualisieren geht bewusst mit diesem Doppelcharakter von Schrift als Materiellem und Medium um. Das Verfahren zielt auf die Wahrnehmung von Schrift als Eigenrealität, entgegen dem bloßen Lesen, d. h. dem Sehen und Deuten einzelner Zeichen in einem Nacheinander. Dabei wird die Räumlichkeit von Schrift als Möglichkeit genutzt, um bildspezifische Effekte wie z. B. Simultanität und Evidenz zu erzielen. Visualisieren kann durch Individualisieren und ungewöhnliches Setzen von Schrift oder das Spielen mit den Schriftzeichen stattfinden.

Individualisieren von Schrift meint das Ausgestalten von Schriftzeichen über ihre visuelle Zeichenform hinaus. Entgegen ihrem Grundcharakteristikum als allgemeines Zeichen, erhält sie durch Gestaltung Einzigartigkeit. Handschrift bietet sich dabei an, da diese entgegen gedruckter Schrift visuell einmalig ist oder zumindest den Eindruck von Einmaligkeit erweckt. Schwierigkeiten bei der Lesbarkeit können diesen Effekt verstärken. Auch durch die Brechung der funktionalen Anordnung von Schriftzeichen wird ein anderes Sehen von Schrift als beim Lesen provoziert. Dadurch macht die Schrift die Spannung zwischen dem Zweck der Schrift als Zeichen und der Möglichkeit von Schrift, Bild zu sein, anschaulich. Der Betrachter nimmt die Schrift in dem Wissen, dass es sich um ein Medium für Sprache handelt, in ihrer eigenen Materialität, also Sichtbarkeit, wahr.

Eine weitere Möglichkeit des Visualisierens sind Spiele mit Buchstaben und Silben wie z. B. Anagramme und Palindrome. Hier findet entgegen dem üblichen Verhältnis von Schrift als Zeichen für Sprache eine Schaffung sprachlichen Sinns durch den Umgang mit Schrift statt. Spielen mit den Schriftzeichen selbst unter Berücksichtigung syntaktischer Regeln wie z. B. Anagramme oder Palindrome erzeugt einen poetischen Sinn. Im Spiel wird das übliche Abhängigkeitsverhältnis von Schrift als Zeichenträger der Sprache umgekehrt.

Visualisieren kann auf die Vermeidung von sprachlichem Sinn zielen. Indem der Fokus auf die Materialität von Sprache gerichtet wird, soll ihre Bedeutung als sprachliches Zeichen zufällig und somit unsinnig erscheinen. Wichtig wird dann die Eigendynamik sprachlicher Sinnproduktion.

Visualisieren entledigt die Schrift nicht ihrer Funktion als Sprachzeichen. Beide Sinnebenen, die der Schrift als Zeichen und die der Schrift als Bild, stehen in einem Widerspruch zueinander. Visualisieren erzeugt dadurch ein Irritationsmoment beim Betrachter. Gewohnte Sehtechniken sind nicht mehr anwendbar. Neue Formen des Sehens, jenseits der identifizierenden Anschauung, werden dann notwendig.

03. 06. 10 /// Janna Schielke

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V. durch ungewöhnliches Setzen: Theokrit, Syrinx (ca. 250 v. Chr.); Georg Weber, Sieben Theile Wohlriechender Lebensfrüchte (1649); Catarina Regina v. Greiffenberg, Über den gekreuzigten Jesus (ca. 1690); Laurence Sterne, Die Bewegung von Trims Stock (1767); Stéphane Mallarmé, Un Coup de Dés (1897); Jörg Albrecht, Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif (2008) /// V. durch Gestalten der Schriftzeichen: Book of Lindisfarne (715-721) /// V. als Vermeidung von Sinn: Filippo Tommaso Marinetti, Zang Tumb Tumb (1914); Richard Huelsenbeck, Marcel Janko, Tristan Tzara, L’Amiral cherche une maison à louer (1916) /// V. durch Spielen mit Schriftzeichen: Ernst Jandl, Niagarafälle (1961); Eugen Gomringer, Wind (1969)

03. 06. 10 /// J.S.

← Forschungsliteratur →

Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994 /// Ludwig D. Morenz, Bild-Buchstaben und symbolische Zeichen, Freiburg und Göttingen 2004 /// Willibald Sauerländer, Initialen – Ein Versuch über das verwirrte Verhältnis von Schrift und Bild im Mittelalter, Wolfenbüttel 1994 /// Jeremy Adler und Ulrich Ernst, Text als Figur – Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Wolfenbüttel 1987 /// Davide Giuriato, Martin Stingelin, Sandro Zanetti (Hrsg.), „Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: Von Eisen“. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München 2008 /// Erika Greber, Konrad Ehlich, Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Materialität und Medialität von Schrift, Bielefeld 2002 /// Peter Koch, Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift, Medien, Kognition – Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen 1997 /// Sonja Neef, Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Berlin 2008 /// Davide Giuriato, Stephan Kammer, Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Frankfurt am Main 2006 /// Christian Kiening, Martina Stercken (Hrsg.), SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008

03. 06. 10 /// J.S.

exemplifizieren

↓ exemplifizieren ↓

Exemplifizieren meint, einen allgemeinen Sachverhalt punktuell zu veranschaulichen oder zu belegen. Das Exemplifizieren geschieht mit einem Exempel, also einem Beispiel. In seiner Wortbedeutung ist das Exempel das als Muster Herausgegriffene, in seiner Funktion als Muster erschöpft es sich jedoch nie. Denn ein Beispiel verweist nicht zwangsläufig auf eine absolute Folie, belegt diese oder geht von ihr aus. Die Wirkungsweise des Exemplifizierens als poetischem Verfahren hängt deshalb nicht allein von einer Gewichtung der Repräsentanz für einen bestimmten Kontext ab. Entscheidend ist die jeweilige Verweisstruktur, die zwischen beispielhaftem Teil und Ganzem, Aspekt und Kontext oder dem Besonderen und dem Allgemeinen – sowie darüber hinaus – auf verschiedene Weise möglich ist. Dabei spielen in Exemplifikationsprozessen das Bemühen um Veranschaulichung und die implizite oder explizite Orientierung an Werten und Wertordnungen stets eine wichtige Rolle.

Zwar muss ein Kontext gegeben sein, um von ihm ausgehend zu einem Beispiel gelangen zu können, das ihn wiederum zu veranschaulichen vermag. Der Bezugskontext muss im Text jedoch nicht explizit klargelegt sein, zudem kann er auch nur scheinbar vorhanden sein oder hinter dem Beispiel zum bloßen Subtext werden. Gleichzeitig verändert sich jeder Bezugskontext durch den Prozess des Exemplifizierens und wird somit durch das Beispiel selbst geprägt. Exemplifikationsprozesse als Veranschaulichungsprozesse können ihren Einsatz in der Funktionsweise rhetorischer Figuren nehmen (bspw. Metapher, Metonymie, Personifikation) oder direkter aus der Entscheidung für bestimmte Stoffe (bspw. historisches, biographisches, theoretisches Material) entwickelt werden.

Wer exemplifiziert, veranschaulicht jedoch nicht nur, er misst dem Beispiel auch eine normative Qualität zu, da das Beispiel einen Richtwert für das von ihm zu Verdeutlichende bildet. Dabei kann das zu Verdeutlichende selbst normativen Charakter haben, etwa im Falle von dramaturgischen Regeln. Die normative Qualität eines Beispiels muss jedoch keineswegs einem bloß affirmativen Konzept verpflichtet sein, sondern kann auch eine ironische oder polemische Färbung erhalten. Hierbei lässt sich das Verfahren am ehesten als Option verstehen, sich von einem musterhaften Charakter abzukoppeln.

Beide Aspekte, die sich in ihrer Anwendung freilich nicht ausschließen, verdeutlichen, dass Exemplifizieren nicht lediglich die Funktion des Verdeutlichens hat. Zwar macht die Dynamik des Verfahrens stets einen solchen Anschein, aber eben im Spielraum dieses Anscheins liegt das poetische Potential des Exemplifizierens. Denn während des Schreibprozesses kann auf einen Kontext oder eine formale Norm angespielt werden, der oder die für den Text selbst nicht bindend ist und im Text auch nicht explizit zu werden braucht. Diese nur als Subtext zu Grunde liegende Textebene ist jedoch stetig wirksam und markiert das durchgreifende poetische Potential des Verfahrens, in dem sie stets unidentisch mit dem Text selbst bleibt, spekulativ und allenfalls erahnbar.

05. 03. 10 /// Sebastian Polmans

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E. als Paraphrase: Barbi Marković, Ausgehen (2006) /// Beispiele als Sprachspiele: Ludwig Wittgenstein, „Zettel“, in: Über Gewißheit (1969) /// E. im Umfeld eines konkreten Gegenstandes: Sarah Emily Miano, Encyclopaedia of Snow (2002) /// E. im biographischen Kontext: Ralf Rothmann, Junges Licht (2004) /// E. eines historischen Ereignisses mittels verschiedener Sprachperformanzen: Norbert Gstrein, O2 (1993) /// E. als Gesellschaftsanalyse im realistischen Roman: Peter Stamm, Sieben Jahre (2009) /// E. als semiologisches Lektüremodell: Roland Barthes, Mythen des Alltags (1957) /// Poetologischer Versuch mittels E.s das eigene Schreiben zu beschreiben: Philippe Jaccottet, Der Spaziergang unter den Bäumen (1981)

05. 03. 10 /// S.P.

← Forschungsliteratur →

Stefanie Marx, Beispiele des Beispiellosen. Heinrich von Kleists Erzählungen, Würzburg 1994 /// Jens Ruchatz, Stefan Willer und Nicolas Pethes (Hrsg.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007 /// Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Unmöglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003 /// Online-Projekt der Ruhruniversität Bochum, Archiv des Beispiels. Eine Beispieldatenbankhttp://beispiel.germanistik.rub.de /// Wilhelm Büthe (Hrsg.), Das exemplarische Verfahren. Beiträge zur Didaktik der Gegenwart, Darmstadt 1972 /// Bazon Brock, „Zur Geschichte des Bilderkrieges um das Realismus-Problem“, in: Rolf Sachse (Hrsg.), Bildersturm und stramme Haltung: Texte 1968 bis 1996, Dresden 2002, S. 22-70 /// Roland Barthes, S/Z, Frankfurt am Main 2007

30. 05. 10 /// S.P.

↑ Postskriptum ↑

Besonders produktiv für das poetische Verfahren des Exemplifizierens ist der Charakter der Unschärfe, der es möglich macht, das Spannungsverhältnis zwischen Teil und Ganzem aufrechtzuerhalten, ohne es unbedingt thematisieren zu müssen – was überdies meist nur in solchen Texten geschieht, die ihre zugrunde liegenden Gegenstände in abstrakten Begriffen umkreisen, um hieraus wiederum mittels induktiver Erkenntnisprozesse gleichsam einen Beleg für die eigenen Ansätze zu entwickeln (wie etwa in kollektivistischen Schreibszenen des französischen Surrealismus). Das Verfahren offenbart hier seine ihm impliziten Anlagen zur Provokation ironischer Potentiale. Denn wenn das zu exemplifizierende Allgemeine hinter einem einzelnen Beispiel im Text gar nicht vorhanden ist (wie etwa das Gesetz in Franz Kafkas Vor dem Gesetz), ist auch der Einzelfall selbst nicht gesichert. Er schreibt sich ein in ein paradoxes Verhältnis zum Allgemeinen, das als lediglich scheinbare Möglichkeit auf Peripherien des Textes verweist, ohne dass sich diese zu erkennen geben. Mit diesem Ansatz zeigt sich womöglich eine der stärksten poetischen Qualitäten dieses Verfahrens, die in ihrer Anwendung das Schreiben grundlegend motivieren (wenn etwa Samuel Beckett seinen eigenen Schreibanlass folgendermaßen erklärt: „I wouldn’t have had any reason to write my novels if I could have expressed their subject in philosophical terms.“ Gabriel D’Aubarède, Interview „En attendant Beckett“. In: Lawrence Graver und Raymond Federman (Hrsg.), Samuel Beckett. The Critical Heritage, London – Henley – Boston 1979, S. 215f).

30. 05. 10 /// S.P.

abbrechen

↓ abbrechen ↓

Beim Abbrechen kommt der Schreibprozess zum Erliegen. Er wird allerdings weder unterbrochen, noch beendet oder abgeschlossen. Abbrechen bezeichnet allein das Ende einer Textarbeit, vor deren Fertigstellung im eigentlichen Sinne. Dabei geht es explizit um den Moment des Abbruchs, für den Schreibprozess insgesamt ist damit kein Urteil gefällt. Dieser kann fortgesetzt werden – mit dem abgebrochenen oder einem anderen Text. Dann entpuppt sich die Zeit nach dem Abbruch als Unterbrechung und das Schreiben als ein an Phasen gebundener Prozess, der durch Abbrüche rhythmisiert wird.tuell motivierte Eindrücke schreibend festzuhalten, zu variieren und schließlich in eine syntaktische Struktur zu überführen.

Das Abbrechen kann durch äußere, pragmatische Faktoren bedingt sein. Ebenso kann die Ursache im Schreibprozess selbst liegen. In diesem Fall treten bei der Arbeit am Text Probleme auf, für die es im Moment keine Lösung zu geben scheint. Es bleibt die Befreiung vom Text, das Abbrechen des Schreibens. Dadurch stellt sich eine Distanz zum Text ein, die produktiv oder auch unproduktiv sein kann, in jedem Fall aber anderen poetischen Verfahren den Raum öffnet.

Die Distanz, die durch das Abbrechen hergestellt wird, und bereits in Momenten des Zögerns und Nachdenkens einsetzen kann, bildet im Schreibprozess den Gegenpol zum kontinuierlichen Weiterschreiben. Unbedingt ist das Schreiben als Prozess auch auf Phasen des Nicht-Schreibens angewiesen. So gesehen, wird das Schreiben immer nur unterbrochenangehalten oder aufgeschoben. Dem Abbrechen kommt dabei als Spannungsmoment zwischen dem Schreiben und dem Nicht-Schreiben eine besondere Dynamik zu, da es nach beiden Seiten offen ist.

Gerade die Arbeit an längeren Texten ist nur denkbar in Phasen, das wiederholte Abbrechen des Schreibprozesses somit notwendig. Dieses Abbrechen als grundlegende Bedingung des Schreibens kann dem ästhetischen Konzept eines Schreibvorhabens untergeordnet werden. Dem gegenüber stehen Schreibverfahren, die es darauf anlegen, die Gemachtheit des zu schreibenden Textes selbst – samt den Abbrüchen im Zuge seiner Entstehung – zur Darstellung zu bringen. Hier kann Profit daraus geschlagen werden, dass das Abbrechen Unfertiges zum Vorschein bringt.

Das Abbrechen kann jedoch auch den Schlusspunkt eines Schreibprozesses markieren, ohne dass damit auf ein endgültiges Ende des Textes hingewiesen wird. Im Gegenteil, gerade der wohl augenscheinlichste Moment des Abbrechens, nämlich sein vermeintlicher Schluss, verdeutlicht das poetische Potential des Verfahrens: Jedem Abbrechen eigen bleibt die Möglichkeit des Fortschreibens.

27. 05. 10 /// Martin Bruch

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A., das die Fertigstellung eines Schreibprojektes um Jahrzehnte hinauszögert: Johann Wolfgang von Goethe, Faust (vom Urfaust (Beginn der Arbeit um 1770) bis zu Faust II (Veröffentlichung 1832)); Ludwig Hohl, Bergfahrt (Beginn der Arbeit 1926, Veröffentlichung 1975) /// A., in dessen Folge ein Schreibprojekt unvollendet zurückbleibt: Georg Büchner, Woyzeck (1879); Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Erste Teilbände erschienen ab 1930); Franz Kafka, Der Process (1925), Das Schloss (1926), Der Verschollene (1926); Walter Benjamin, Das Passagen-Werk (1983) /// Psychologisch oder sonstwie motiviertes A. des Schreibens bei Arthur Rimbaud (1875), Robert Walser (1933) und Friedrich Nietzsche (1889) /// A. als literarisches Thema, als vorgeführte Verweigerungshaltung: Herman Melville, Bartleby der Schreiber (1853); Jean-Philippe Toussaint, Das Badezimmer (1985) /// A. als eine Form des Verschweigens bei Samuel Beckett (u.a. in Warten auf Godot (1952), Endspiel (1956)), als eine Form des Verstummens bei Wolfgang Koeppen (nach den Romanen der Trilogie des Scheiterns in den 1950er Jahren), als eine Form des Verschwindens bei Ilse Aichinger (als beständiges Motiv in Aichingers Werk, insb. erwähnt sei das 2001 in der Tageszeitung Der Standard veröffentlichte Journal des Verschwindens) /// A. der Romanform in der jüngsten Gegenwartliteratur (es bleiben Erzählungen, die eng an ein Themen- und Motivkreis gebunden sind): Judith Hermann, Alice (2009); Bernhard Strobel, Nichts, nichts (2010)

27. 05. 10 /// M.B.

← Forschungsliteratur →

Claudia Brors, Anspruch und Abbruch – Untersuchungen zu Heinrich von Kleists Ästhetik des Rätselhaften, Würzburg 2002 /// Peter Burke, Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität, Berlin 1994 /// Karin Gerig, Fragmentarität – Identität und Textualität bei Margaret Atwood, Iris Murdoch und Doris Lessing, Mannheim 2000 /// Ulrich Horstmann, Die Aufgabe der Literatur oder Wie Schriftsteller lernten, das Verstummen zu überleben, Frankfurt am Main 2009 /// Mehr nicht erschienen. Ein Verzeichnis unvollendet gebliebener Druckwerke. Auf Grund des von Moritz Grolig gesammelten Materials bearbeitet und ergänzt von Michael O. Krieg, Bad Bocklet 1954-1958, (2 Bände) /// Joachim Strelis, Die verschwiegene Dichtung: Reden, Schweigen, Verstummen im Werk Robert Walsers, Frankfurt am Main 1991 /// Hans Mayer, „Sprechen und Verstummen der Dichter“, in: Ders., Das Geschehen und das Schweigen: Aspekte der Literatur, Frankfurt am Main 1969, S. 11-34 /// Mirko F. Schmidt, Jean-Philippe Toussaint, Erzählen und Verschweigen, Paderborn 2001

27. 05. 10 /// M.B.

dekonstruieren

↓ dekonstruieren ↓

Einen Text zu dekonstruieren bedeutet, dessen Konstruiertheit und Rhetorizität schreibend aufzudecken und vorzuführen. Dekonstruieren ist sowohl ein Lektüre- als auch ein Schreibverfahren, das sich stets auf einen bereits bestehenden Text bezieht. Dabei ist es keineswegs als bloße Negation des zu dekonstruierenden Gegenstandes zu begreifen, vielmehr ist es eine Verbindung aus destruierendem und konstruierendem Schreiben, das sich gleichzeitig affirmativ und kritisch dem Gelesenen gegenüberstellt.

Das dekonstruierende Schreiben greift deshalb auf den Begriffsapparat des gelesenen Textes zurück anstatt diesen zu ersetzen. Allerdings werden die Begriffe so vorgeführt, dass ihre Geschichte und Etablierungsweisen sichtbar werden; die Spuren anderer Texte, die in dem gelesenen Text verborgen sind, werden aufgedeckt.

Einen Text zu dekonstruieren bedeutet demnach, diesen noch einmal zu schreiben, jedoch ohne seine Widersprüche, Kontexte und strategischen Tendenzen zu verbergen. Wie sich das Verfahren allerdings im Detail gestaltet, kann sich ausschließlich am konkreten Gegenstand entscheiden. Als übergreifende Verfahrensmerkmale ließen sich jedoch nennen: (1) das Aufdecken bzw. Invertieren der Hierarchie von Begriffspaaren, (2) das Sichtbarmachen eines gewaltsamen Ausschlusses von Nichtgesagtem z.B. durch die Fokussierung auf supplementäre Textelemente wie Fußnoten oder Texte in Klammern, die als Schwellenphänomene möglicherweise Hinweise auf das Ausgeschlossene geben, (3) das Auflösen der rhetorisch konstruierten Identität von Positionen, indem widersprüchliche Elemente in der Argumentation hervorgehoben werden.

Das dekonstruierende Lesen bzw. Schreiben sieht in jedem Sprechen und Schreiben eine Machtausübung, die es aufzudecken gilt; damit versteht sich das Dekonstruieren durchaus als politische Praxis, die in bestehende Machtverhältnisse interveniert und diese destabilisiert ohne dabei unbedingt eine neue Position zu entwerfen. Statt eine erneute Normierung vorzunehmen, wird die Andersheit aufgewertet, das Randständige in den Mittelpunkt gerückt.

Das dekonstruierende Schreiben kann nicht zu einem abschließenden Ergebnis kommen, da es einerseits niemals alle zu dekonstruierenden Elemente eines Textes berücksichtigen kann und sich andererseits selbst zum potentiellen Gegenstand zukünftiger Dekonstruktion macht. Dahinter steht die Vorstellung, dass jeder Text das Potential birgt, sich selbst zu dekonstruieren. Dekonstruieren als aktive Tätigkeit meint lediglich, dieses dekonstruktive Potenzial ans Licht zu bringen.

Dazu braucht es zwar eine grundsätzliche Affirmation des Textes in seinem Sosein, allerdings wird eine Bewertung bzw. ein abschließendes Urteil derart suspendiert, dass die Provokation von eigenverantwortlicher Kritik in der Lektüre ermöglicht wird. Das dekonstruierende Schreiben kann damit zu einer Eröffnung von zuvor unabsehbaren Lektüremöglichkeiten eines schreibend gelesenen Textes werden.

30. 03. 10 /// Johanna Stapelfeldt

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D. als methodische Verschränkung von Konstruktion und Destruktion: Martin Heidegger, Sein und Zeit (Kap. 6) (1927) /// D. als Haltung: Jacques Derrida, Grammatologie (1967); ders., Randgänge der Philosophie (1972) /// D. als Abgrenzung von Vorläuferfiguren: Harold Bloom, Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung (1973) /// D. als literaturwissenschaftliche Methode: Paul de Man, Allegorien des Lesens (1979) /// D. und Psychoanalyse: Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache (1985) /// D. und Intertextualität: Michail Bachtin, Das Problem des Textes (1986) /// D. in den Gender Studies: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (1990) /// D. als Lektüremodus: Werner Hamacher, Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan (1998)

30. 03. 10 /// J.S.

← Forschungsliteratur →

Georg W. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002 /// Peter Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 2007 /// Andrea Kern, Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt a.M. 2002 /// Dominik Portune und Peter Zeillinger (Hrsg.), Nach Derrida. Dekonstruktion in zeitgenössischen Diskursen, Wien 2006 /// Thomas Rösch, Kunst und Dekonstruktion. Serielle Ästhetik in den Texten von Jacques Derrida, Wien 2008 /// Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek 1999 /// Chantal Mouffe (Hrsg.), Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien 1999 /// Peter Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Stuttgart 1994 /// Bettina Menke, Dekonstruktion – Lektüre: Derrida literaturtheoretisch, in: Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 235-258

30. 03. 10 /// J.S.

↑ Postskriptum ↑

Bei der versuchten Beschreibung vom Dekonstruieren als poetischem Schreib- bzw. Lektüreverfahren ließe sich anmerken, dass in der Folge von Jacques Derrida auch von einem erweiterten Textbegriff ausgegangen werden könnte; d.h. für ein dekonstruierendes Schreibverfahren könnte neben einem geschriebenen Text auch die Lektüre einer Gesprächssituation oder einer Häuserfassade zum Ausgangspunkt werden.

30. 03. 10 /// J.S.