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anekdotisieren

↓ anekdotisieren ↓

Beim Anekdotisieren geht es darum, eine kleine Geschichte zu erzählen, in der der Charakter oder das Wesen einer Person durch eine scheinbar zufällige Äußerung oder Handlung verdeutlicht wird. Ob oder inwiefern eine derart produzierte Anekdote das geschilderte Ereignis historisch exakt wiedergibt, ist nicht entscheidend: Beim Anekdotisieren wird der Erzählinhalt zwar historisch verortet, ob es sich aber tatsächlich so begeben hat, ist zweitrangig. Wichtig ist allerdings, dass das Erzählte stattgefunden haben kann. Anekdotisieren impliziert daher stets das Herstellen von bzw. das Spiel mit der Wahrscheinlichkeit. Dieses Spiel wird zu einem ironischen Spiel, wenn eigentlich klar ist, dass das Gesagte nicht den Tatsachen entspricht. Gesellschaftlich akzeptiert wird eine Anekdote, wenn die erzählte Begebenheit mit dem vermuteten oder als bekannt vorausgesetzten Charakter der geschilderten Person übereinstimmt.

Anekdotisieren bedeutet Arbeit mit Minimalisierung und Pointierung. Sowohl im Bau des Ganzen wie im Gefüge der Sätze wird Knappheit angestrebt, bei Rede und Dialog bedient sich der Schreibende der gedrängtesten Form. Gelegentliche Längen werden verwendet, um die Haltung der Ironie zu verbergen bzw. zu offenbaren, oder um die ungeduldige Erwartung in Richtung auf den Ausgang zu steigern.

In diesem Sinne wird Beiwerk sparsam verwendet, der Schreibende versucht zu jedem Zeitpunkt, nicht die klaren, sicheren Linien des fortschreitenden Geschehens aus dem Blick zu verlieren. Jedes Element des Texts dient nur der weiterführenden Schilderung des Geschehens, dem fortschreitenden Vordringen zur Pointe. Darin liegt der eigentliche Sinn des Verfahrens, auf sie hin wird geschrieben. Die Pointe der Pointe liegt in der Attraktivität, all das Gesagte auch glauben zu können. Je unwahrscheinlicher dabei die geschilderte Begebenheit ist, desto anspruchsvoller wird die Aufgabe sein, die Begebenheit durch das Verfahren des Anekdotisierens als wahrscheinlich herauszustellen. In der Möglichkeit, Unwahrscheinliches als wahrscheinlich darzustellen, liegt unter anderem das poetische Potential des Verfahrens.

Beim Anekdotisieren wird nur erzählt, was sich zu erzählen lohnt. Anekdotisiert wird, um zu interessieren, zu belegen, oder um einen Erzählinhalt aus seiner primären Oralität herauszulösen, ihn schriftlich wiederzugeben und so festzuhalten. Beim Anekdotisieren wird auf Weitererzählbarkeit geachtet. Dabei bietet es sich an, Erzählinhalte zu verwenden, die das Potential haben, vielen merkwürdig oder lieb zu sein. Anekdotisieren setzt ein intuitives Begreifen zur Charakterisierung einer Person oder Sache voraus. Wer gut anekdotisieren will, muss ebenso gut zuhören wie erzählen können.

26. 03. 10 /// Verena Kaiser

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A. als Erzählform der Geschichtsschreibung: Herodot, Historien (5. Jhdt. a.c.); Heinrich von Kleist, Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege (1810); Reinhard Federmann, Wiener G’Schichten – Geschichte Wiens (1962); Hein (Hg.), Deutsche Anekdoten (1976); Johannes Kunz (Hg.), Am Anfang war die Reblaus. Die zweite Republik in Anekdoten (1987) /// A. als Illustration zum Leben berühmter Persönlichkeiten: Diogenes Laertios, Über Leben und Lehren berühmter Philosophen (3. Jhdt. p.c.); Prokopios von Caesarea, Anekdota (Mitte 6. Jhdt. p.c.); Heinrich Zillich (Hg.), Bekenntnis zu Josef Weinheber (1950); Marie von Ebner-Eschenbach, Erinnerung an Franz Grillparzer (1955); Géza von Cziffra, Die Kuh im Caféhaus (1981) /// A. zur Einsichtgabe in abgeschottete Berufsgruppen: Walther Birkmayer und Gottfried Heindl, Der liebe Gott ist Internist. Der Arzt in der Anekdote (1978); Hans Bankl, Im Rücken steckt das Messer. Geschichten aus der Gerichtsmedizin (2001); Franz Marischka, „Immer nur lächeln“. Geschichten und Anekdoten von Theater und Film (2001); Ulrike Beimpold, Eine Birne namens Beimpold. Anekdoten einer Burgpflanze (2008) /// A. zur Belehrung & Glorifzierung: Johannes Geiler von Kaysersberg (1445 – 1510); Abraham a Sancta Clara (1644 – 1709); Johann Peter Hebel, Kalendergeschichten (1807 – 1827); Wilhelm Schäfer (1868 – 1952) /// A. als Verfahren für Aufzeichnungen von Erinnerungen: Marie von Ebner-Eschenbach, Meine Kinderjahre (1924); Vicki Baum, Es war alles ganz anders (1962); Alexander Roda-Roda, Schummler, Bummler, Rossetummler (1966); Peter Ustinov, Ustionovitäten (1972); Eugen Roth, Erinnerungen eines Vergesslichen (1972); Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch (1975) / Géza von Cziffra, Kauf dir einen bunten Luftballon, Immer waren es die Frauen (1975)

26. 03. 10 /// V.K.

← Forschungsliteratur →

Max Dalitzsch, Studien zur Geschichte der deutschen Anekdote (Diss.), Freiburg 1923 /// Heinz Grothe, Anekdote, Stuttgart 1971 /// Franz-Heinrich Hackel, Zur Sprachkunst Friedrich Torbergs. Parodie – Witz – Anekdote, Frankfurt am Main 1984 /// Sonja Hilzinger, Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1997 /// Albrecht Christoph Kayser, „Ueber den Werth der Anekdoten“, in: Der deutsche Merkur, April 1784, S. 82-86 (erste wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema) /// Hans Lorenzen, Typen deutscher Anekdotenerzählung. Kleist – Hebel – Schäfer (Diss.), Hamburg 1935 /// Volker Weber, Anekdote. Die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie, Tübingen 1993

26. 03. 10 /// V.K.

↑ Postskriptum ↑

Dem Leser mag der Begriff anekdotisieren vielleicht auf den ersten Blick ungewohnt, fremd oder gar seltsam vorkommen. Und das nicht zu Unrecht! Die 24. Auflage des Duden verzeichnet zwar die Begriffe AnekdötchenAnekdoteanekdotenhaft und anekdotisch, führt allerdings kein Verb zu diesem Wortstamm an, wie alle anderen (von mir gesichteten) deskriptiven und präskriptiven Grammatiken wie Lexika.

Glaubt man also solchen Standardwerken, gibt es im Deutschen kein Wort, das den Prozess des Erzählens einer Anekdote in einer Verbalform beschreibt. Gibt man jedoch anekdotisieren bei Google – dem Index für den Sprachgebrauch des Gegenwartsdeutschen – ein, so erhält man Verweise auf unzählbar viele Einträge. Einig über die Verwendung sind sich die Einträge nicht, sondern man merkt spätestens auf Ergebnisseite Drei, dass die „Konsumenten“ dieses Wort situationsbezogen für ihre eigenen Zwecke einsetzen, wobei unter anekdotisieren verschiedenste Vorgänge verstanden werden. Der eine meint das Wiedergeben einer Anekdote, der andere das Erstellen einer Anekdote. Diese oftmalige Verwendung – trotz bestehender Unsicherheit bzw. Unklarheit über das Signatum des Signans – spricht meiner Meinung nach dafür, dass hier eine Leerstelle im Lexikon des Deutschen besteht, die nicht nur gefüllt werden will, sondern auch Überlegungen zum Inhalt dieses Ausdruckes nötig macht.

Ich habe beim Erstellen dieses Artikels das Verb anekdotisieren ausgehend vom Signatum Erzählen einer Anekdote gedacht und dabei versucht offen zu lassen, ob es sich um das erstmalige (schöpferische) Erzählen, das umwandelnde oder originalgetreue Weitererzählen handelt. Denkt man hierarchisch, könnte also das Anekdotisieren als Überbegriff gedacht werden, der der Verwendung des Erzählinhalts entsprechend wiederum in spezifischere Begriffe aufgespalten werden kann.

26. 03. 10 /// V.K.

zitieren

↓ zitieren ↓

Zitieren heißt Innehalten beim Schreiben, um einem gelesenen oder anderswie aufgenommenen Text oder Textausschnitt Einlass in den gegenwärtig geschriebenen Text zu verschaffen. Denkbar ist auch die umgekehrte Bewegung: Gelesenes oder anderswie Aufgenommenes wird eigens gesammelt und behalten, um es später in einem erst noch zu schreibenden Text verwenden zu können. Im Akt des Zitierens treten (mindestens) zwei Texte in Spannung zueinander: ein bereits vorhandener, neu gelesener, und der gerade geschriebene oder erst noch zu schreibende Text. Diese Spannung ist für den Akt des Zitierens konstitutiv. Im Schreiben kann sie unterschiedlich eingesetzt werden. Ein solcher Einsatz steht nicht im Widerspruch zur Annahme, dass unterschwellig jeder Schreibakt – indem dieser prinzipiell aus einer Wiederverwendung bereits bestehender Worte und Buchstaben besteht – zitierend verfährt und umgekehrt jeder Text seine Zitierbarkeit impliziert. Vielmehr liegt der Arbeit mit dieser Spannung diese Annahme gerade zugrunde: Weil Texte grundsätzlich zitierbar sind und neu geschriebene Texte stets auf bereits Geschriebenes rekurrieren, gibt es die Möglichkeit, diese prinzipielle Dimension von Sprache im Schreiben durch spezifische Akte des Zitierens ebenso differenziert zum Einsatz zu bringen.

Bewusst oder unbewusst werden in jedem Akt des Zitierens folgende Entscheidungen getroffen: (Auswahl) Welche Art von Material (Dokumentarisches, Literarisches, Bekanntes, Unbekanntes etc.) wird lesend zitiert? – (Grenze) Welcher Ausschnitt wird aus dem Gelesenen ausgewählt, wo die Grenze gezogen? – (Markierung) Wird das zitierend Gelesene durch Anführungsstriche, Kursivschrift, Sperrung oder dergleichen markiert oder nicht markiert? – (Nachweis) Wird der Kontext, aus dem heraus zitiert wird, durch, bibliographische Hinweise, Quellenangaben, Namensnennung oder dergleichen belegt oder nicht belegt (Dimension des Urheberrechts)? – (Wörtlichkeit) Wird wörtlich, sinngemäß oder gezielt abändernd zitiert (oder belegt)? – Und: (Gestus) In welchem Gestus (affirmativ, kritisch, autoritativ, destruktiv etc.) erfolgt der Akt des Zitierens?

Die Grundspannung, die der Akt des Zitierens erzeugt, lässt sich entsprechend vielfältig modulieren. Das kann mit einer Wirkabsicht im Hinblick auf bestimmte Rezeptionsmöglichkeiten erfolgen, die durch das Zitieren eröffnet oder nahegelegt werden (Absicherung der eigenen Position, Produktion von Geheimwissen, Ausweis von Kennerschaft, Markierung eines Bruchs zum Vergangenen, Suggestion von Kontinuität, Verlebendigung etc.). Dabei bleibt zwar notwendig ungewiss, was von etwaigen Absichten beim Zitieren im schließlich als Zitat vorliegenden Textereignis, das weitere Lektüren provoziert, übrigbleibt. Jede Leserin / jeder Leser wird das Zitat auf ihre / seine Weise wahrnehmen und zum Anlass für weitere Akte des Zitierens nehmen können. Aber festgelegt werden kann im Schreiben doch, was denn überhaupt zitiert wird und in welchem neuen Kontext das Zitierte stehen soll. Zitieren heißt schließlich, die vergangene Zukunft eines Textes als Jetztzeit zu bestimmen und mit der Art der Bestimmung gleichzeitig eine bestimmte Konzeption von Geschichte zu realisieren.

13. 03. 10 /// Redaktionsteam 1

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Z. als schreibendes Verhältnis zur Geschichte: Walter Benjamin, Passagenwerk (1982) /// Z. als Modus der Intertextualität: Julia Kristeva, Zu einer Semiologie der Paragramme (1969) /// Z. als Spezialuntersuchung: Antoine Compagnon, La seconde main ou le travail de la citation (1979) /// Z. als Figur des Gedächtnis: Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man (1986); ders., Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel (1988) /// Z. als Spur in der Rede: Jacques Derrida, „Signatur, Ereignis, Kontext”, in: Randgänge der Philosophie (1988) /// Z. als Excitatio: Jean-François Lyotard, „Emma” (1989) /// Z. in der traditionellen Literaturwissenschaft: Herman Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst (1991)

13. 03. 10 /// R.1

← Forschungsliteratur →

Daniel Baudot (Hrsg.), Redewiedergabe, Redeerwähnung. Formen und Funktionen des Zitierens und Reformulierens im Text, Tübingen 2002 /// Klaus Beekman und Ralf Grüttemeier (Hrsg.), Instrument Zitat. Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, Amsterdam/Atlanta 2000 /// Sibylle Benninghoff-Lühl, Figuren des Zitats, Stuttgart/Weimar 1998 /// Elke Brendel u.a. (Hrsg.), Zitat und Bedeutung. Linguistische Berichte. Sonderheft 15, Hamburg 2007 /// Andrea Gutenberg und Ralph J. Poole (Hrsg.), Zitier-Fähigkeit, Berlin 2002 /// Manfred Harth, Anführung. Ein nicht-sprachliches Mittel der Sprache, Paderborn 2002 /// Renate Lachmann, Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik, in: Das Gespräch, Poetik und Hermeneutik XI, München 1984 /// dies.: Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a. M 1990 /// Bettine Menke, Das Nach-Leben im Zitat, in: A. Haverkamp, R. Lachmann (Hrsg.), Gedächtniskunst. Text und Raum, Frankfurt a. M. 1991 /// Volker Pantenburg und Nils Plath (Hrsg.), Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren, Bielefeld 2002 /// Elena Sciaroni, Das Zitatrecht, Fribourg 1970 /// Jakob Steinbrenner, Zeichen über Zeichen. Grundlagen einer Theorie der Metabezugnahme, Heidelberg 2004 /// http://www.zitatundbedeutung.uni-mainz.de (letzter Aufruf am 28.12.2008)

13. 03. 10 /// R.1

verspotten

↓ verspotten ↓

Verspotten meint, eine Person oder eine Personengruppe schreibend lächerlich darzustellen und somit zu erniedrigen. Dafür notwendig ist die Nachahmung des Verspotteten, wobei aber einzelne Eigenschaften herausgestellt und übertrieben werden. Verspotten impliziert eine Kritik an der verspotteten Person oder Personengruppe oder an dem durch sie repräsentierten Wertesystem.

Das Verspotten als Kritik an einer Person bedarf eines ernsthaften Hintergrundes und des klaren, nachvollziehbaren Bezugs zur realen Person oder Personengruppe. Daher nimmt die literarische Darstellung des Verspotteten einen großen Raum ein, die Charakterisierung ist elementarer Bestandteil dieses Verfahrens. Der Spottende nimmt eine erhöhte Position dem Verspotteten gegenüber ein. Tut er dies nicht, sondern erscheint selbst als unterlegen, entlarvt er über das Verspotten anderer seine eigenen Unzulänglichkeiten, setzt sich also selbst dem Spott aus. Die Kritik an der Person kann bei dieser Form des Verspottens gängige Werte zur Grundlage haben. Eine Notwendigkeit der Kritik muss offenbar werden. Diese berechtigt den Spottenden dazu, sprachliche und inhaltliche Tabus zu brechen.

Das Verspotten als Kritik an einem Wertesystem findet durch die stereotype Darstellung einer Figur statt, die für das entsprechende Wertesystem als repräsentativ gelten kann. Einzelne Eigenschaften werden übertrieben, sodass die Authentizität der verspotteten Figur bzw. der Bezug zur realen Person in den Hintergrund rückt. Auch die Unterstellung objektiv nicht vorhandener Eigenschaften einer realen Person ist möglich, denn das Verspotten zielt entgegen der vorherig beschriebenen Möglichkeit des Verspottens nicht auf die Kritik an einer Person, sondern auf die Relativierung der Kriterien zur Beurteilung der Person und gesellschaftlicher Stereotypen. Daher muss der Spottende sich nicht moralisch über den Verspotteten erheben. Spottender, Verspotteter und Rezipienten bilden in diesem Fall ein Kollektiv. Die Wertvorstellungen werden relativiert. Die gegenwärtigen Umstände erscheinen als veränderbar. Dadurch entsteht ein utopisches Potential, sowohl im gesellschaftlich-politischen Sinne als auch als poetischer Freiraum, der es zulässt, sprachliche Grenzen zu überschreiten und gegebene Denksysteme, wie z. B. die Logik, zu unterwandern.

Verspotten verhandelt immer einen Widerspruch. Dieser kann entweder zwischen dem Bild des Verspotteten von sich selbst und dem, was er für andere ist, oder zwischen dem gesellschaftlich anerkannten Stereotyp der Personengruppe, die der Verspottete repräsentiert, und dem Verspotteten im Konkreten bestehen. Dieser Widerspruch drückt sich z. B. in uneigentlicher Rede wie z. B. der scheinbaren Herabsetzung der eigenen Person oder der Verbindung von Lob und Tadel aus.

Verspotten zielt auf die Darstellung von Widersprüchen zwischen Selbst- und Fremdeinschätzungen, Idealbild und realer Grundlage oder zwischen unterschiedlichen Wissensständen. Das erzeugt einen Reibungsaspekt, der als komisch oder absurd wahrgenommen wird. Das Verfahren des Verspottens schafft durch die Herstellung ungewöhnlicher Zusammenhänge einen utopischen Raum, in dem Möglichkeiten jenseits herrschender Denk- und Sprachsysteme einen Platz haben.

13. 03. 10 /// Janna Schielke

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V. als Verlachen von Stereotypen: Aristophanes, Die Wespen (442 v. Chr.) /// V. als Verlachen des gängigen Wertesystems: Francois Rabelais, Gargantua und Pantagruel (1532-1564); Johann Fischart, Geschichtsklitterung (1575/90); Walter Serner, Die Langeweile und der Krieg (1915); Eugène Ionesco, Die kahle Sängerin (1950) /// V. als Kritik an einer Personengruppe: Max Ernst, Pollutionsgefahr (1931); Feridun Zaimoglu, German Amok (2002) /// Verspotten als Selbstentlarvung: David Foster Wallace, Kleines Mädchen mit komischen Haaren (1989)

13. 03. 10 /// J.S.

← Forschungsliteratur →

Andrea Ercolani, Spoudaiogelon – Form und Funktion der Verspottung in der aristophanischen Komödie, Stuttgart, Weimar 2002 /// Ute Drechsler, Die absurde Farce, Tübingen 1988 /// Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt, Frankfurt am Main 1995 /// Wolfgang Promies, Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie, Frankfurt am Main 1986 /// Christoph Auffahrt, Sonja Kerth (Hg.), Glaubensstreit und Gelächter – Reformation und Lachkultur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Berlin 2008 /// Rüdiger Zymner, Manierismus – Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn 1995 /// Jens Ivo Engels, Vaudeville – Stimmen in der Stadt. Der König in politischen Liedern, in: Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den französischen König in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, Bonn 2000 /// Werner von Koppenfels, Der andere Blick oder das Vermächtnis des Menippos, München 2007

13. 03. 10 /// J.S.

↑ Postskriptum ↑

Für das Verspotten bieten sich grundsätzlich Medien an, die ein Potential für Verkörperung haben. So ist erklärbar, dass das Verfahren des Verspottens vor allem im Theater angewandt wird. Hier ist eine direkte Verkörperung einer Person oder eines Stereotyps möglich. Spottender und Verspotteter sind direkt als Personen auszumachen. Außerdem impliziert figurenbezogenes Theater immer das Paradoxon, dass ein Schauspieler sowohl als Zeichenträger seiner Rolle fungiert, als auch sich selbst, zumindest in seiner körperlichen Präsenz, zur Anschauung bringt. Dadurch ist es möglich, gleichzeitig eine Person oder die Repräsentation eines Stereotyps charakterisierend darzustellen und aus einer Distanz heraus zu bewerten und zu erniedrigen. Auch die Schaffung von ständigen Kunstfiguren, bei denen die Grenze zur ‚realen‘ Person verwischt ist, bietet sich in diesem Zusammenhang an. So nutzt z. B. Walter Serner diese Ambivalenz, indem er eine Persönlichkeit ist, die an sich schon sowohl den kulturellen Mainstream als auch sein eigenes kulturelles Umfeld, die Zürcher Dada-Szene, verspottet.

Auffällig bei der historischen Betrachtung ist auch, dass die Verspottung als Kritik an einem Wertesystems besonders in der Antike und der Renaissance weitverbreitet war. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass für das Verspotten ein Kollektiv gleicher Wissensstände und Wertvorstellungen notwendig ist. Ein solches, wie es in den Städtegemeinschaften der Renaissance vorhanden gewesen sein mag, ist gegenwärtig schwer zu finden. „Öffentlichkeit“ bedeutet nicht mehr der städtische Marktplatz, sondern mediale Präsenz, die eine breite, zumindest theoretisch weltweite, anonyme Masse an Menschen erreicht. Verspotten kann dabei auch Kollektive schaffen, indem sich die Rezipienten gegenüber den Verspotteten abgrenzen bzw. gegenüber denjenigen, die am verspotteten Wertesystem festhalten oder den Spott nicht verstehen. So sind z. B. die Stücke von Eugène Ionesco als klare Abgrenzung vom spießigen Bürgertum zu verstehen. ‚Fangemeinden‘ können ein ähnliches Phänomen darstellen. Problematisch ist dabei, dass das auf ein Wertesystem zielende Verspotten als Herabsetzung konkreter Personen verstanden werden kann, sobald es durch Nicht-Mitglieder eines Werte- und Wissenskollektiv rezipiert wird.

13. 03. 10 /// J.S.

auslassen

↓ auslassen ↓

Etwas auslassen bedeutet, ein zu erwartendes Element in einem Text auszusparen. Ausgelassen werden können Textelemente unterschiedlichster Größenordnung – angefangen bei einzelnen Buchstaben bis hin zu ganzen Handlungselementen. Das Ergebnis des Auslassens ist eine Leerstelle. Seine Wirksamkeit erreicht das Verfahren durch das Schaffen einer Andeutung, die es möglich macht, eine Erwartungshaltung beim Leser zu produzieren.

Auslassen ist im Gegensatz zu Verfahren wie Streichen, Kürzen oder Weglassen nicht unbedingt als reduzierendes Verfahren zu verstehen, obgleich es ebenso ein Zuwenig an Information hinterlässt. Positiv formuliert, gestaltet sich das Auslassen als Konstruieren des Textes um eine (oder mehrere) Leerstelle(n) herum. Dabei stellt sich die Frage, ob und wie die Leerstelle markiert wird; eine gänzliche Nicht-Markierung ließe den Vorgang des Auslassens auf Textebene allerdings als Verfahren nicht mehr erkennbar werden. Da eine Leerstelle nicht durch sich selbst markiert ist – sie ist schließlich etwas Nicht-Geschriebenes – muss eine Markierung durch die Textumgebung oder durch eigens dafür vorgesehene Zeichen erfolgen.

Markiert werden kann sowohl auf graphischer Ebene, zum Beispiel durch einen Gedankenstrich oder drei Punkte, als auch auf semantischer Ebene, etwa mit der Ankündigung dann ausbleibender Handlungselemente oder einem Rückbezug auf Ausgespartes. Markierungen dieser Art machen ein Spannungsfeld zwischen der Eindeutigkeit des Gesagten und der Offenheit des Ausgelassenen auf.

Das poetische Potential des Auslassens liegt im Schaffen von Uneindeutigkeiten, ohne dabei Uneindeutigkeit zu suggerieren. Es setzt an die Stelle der verschwiegenen Information zunächst eine Bedeutungsoffenheit, die Leerstelle. Um wirksam zu werden, muss der Text um die Leerstelle herum allerdings so konstruiert werden, dass diese unabhängig davon, ob sie sinnvoll ausgefüllt werden kann, herausfordert, sinnvoll ausgefüllt zu werden. Das Ausgelassene, obwohl selbst unbestimmt, scheint dann gleichwohl kein beliebig Ausgelassenes zu sein – ähnlich wie ein Rätsel, für das es keine Lösung gibt, das aber trotzdem eine Lösung verspricht und verlangt. Zur höchsten Komplexität gelangt das Auslassen als poetisches Verfahren, wenn eine Leerstelle mehrere Wege einer potentiellen Auflösung offenhält, diese jedoch in einem paradoxen Verhältnis zueinander stehen lässt. So wird es unmöglich, das ausgelassene Textelement auf eine einzige sinnvolle Weise auszufüllen. Der Prozess der Vervollständigung bleibt im besten Sinne unabgeschlossen.

28. 12. 09 /// Mathias Prinz

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A. als Leserirritation: Heinrich von Kleist, Die Marquise von O.… (1808) /// A. durch Ellipsen (Zeitsprünge): Stendhal, Kartause von Parma (1839) /// A. von sexuellen Begegnungen: Gustave Flaubert, Madame Bovary (1856); Theodor Fontane, Effi Briest (1895) /// A. als Deutungsfalle: Franz Kafka, Vor dem Gesetz (1915) /// A. als zersetzendes Formprinzip: James Joyce, Ulysses (1922) /// A. durch Perspektivierung: Virginia Woolf, Die Wellen (1931); Alain Robbe-Grillet, Die blaue Villa in Hongkong (1965) /// A. als Handlungsmotivation: Samuel Beckett, Warten auf Godot (1952) /// A. von Wörtern, die einen bestimmten Buchstaben enthalten, als (leipogrammatisches) Konstruktions­prinzip eines Romans und als Reflexion über traumatische Verlusterfahrungen: Georges Perec, La Disparition (1969); in deutscher Übersetzung, ebenfalls ohne den Buchstaben „e“: Georges Perec, Anton Voyls Fortgang, hrsg. und übers. von Eugen Helmlé (1986)

28. 12. 09 /// M.P.

← Forschungsliteratur →

Natascha Adamowsky und Peter Matussek (Hrsg), [Auslassungen] Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft, Würzburg 2004 /// Jenny Graf-Bicher, Funktionen der Leerstelle. Untersuchungen zur Kontextbildung im Roman am Beispiel von ‘Les Filles de joie’ von Guy des Cars und ‘Les Caves du Vatican’ von André Gide, München 1983 /// Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 1972 /// Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970; ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1972; ders., Der implizite Leser. Kommunikationsformen des englischen Romans von Bunyan bis Beckett, München 1976 /// Sabine Kuhangel, Der labyrinthische Text. Literarische Bedeutungs­offenheit und die Rolle des Lesers, Wiesbaden 2003 /// Danielle Reif, Die Ästhetik der Leerstelle. Raymond Federmans Romasn ‘La Fourrure de ma tante Rachel’, Würzburg 2005 /// Birgit Schlachter, Schreibweisen der Abwesenheit. Jüdisch-Französische Literatur nach der Shoah, Köln 2006

28. 12. 09 /// M.P.

↑ Postskriptum ↑

Ein einfaches Beispiel einer Auslassung findet sich in Goethes Faust:
Faust: „Darf ich euch begleiten?“
Gretchen: „Die Mutter würde mich – lebt wohl.“

Wolfgang Iser schreibt die Aufgabe der Ausfüllung einer Leerstelle im Rahmen seiner rezeptions­ästhetischen Argumentation dem Leser zu. Er benennt das vermehrte Auftreten von Leerstellen in Texten seit dem 18.Jhd als Überschreibung der kreativen Leistung an den Leser.

28. 12. 09 /// M.P.

Die Frage stellt sich jedoch, ob man das rezeptionsästhetische Modell nicht besser produktions­ästhetisch denken sollte: Welche Arten des Schaffens von Leerstellen gibt es? Und welche Effekte haben diese auf die Lektüre?

28. 12. 09 /// Sandro Zanetti

redigieren

↓ redigieren ↓

Redigieren meint, einen Text zu überarbeiten und druckfertig zu machen. Damit ist es eine Art dialogischer Auseinandersetzung mit einem bereits vorhandenen Text und stets mit einer intensiven Lektüre verbunden. Das Verfahren bedient sich dabei benachbarter Techniken wie dem Korrigieren, Verbessern, Berichtigen, Ausfeilen, Vervollkommnen und Überarbeiten. Es besteht jedoch nicht in der bloßen Addition dieser Tätigkeiten, denn Ziel des Redigierens ist das Herausarbeiten des in einem Text vorhandenen Potentials.

Potential meint dabei die spezifische Eigenart und Stärke des Textes, seine sprachlichen Besonderheiten oder den Aufbau der Dramaturgie, die im Prozess des Redigierens zu schärfen sind. Es ist eine Suche nach dem Plan des Textes im Text selbst und eine anschließende Anwendung dieses Plans wiederum auf den Text. Über diese individuell auf jeden Text abgestimmte Arbeitsweise hinaus gibt es immer wiederkehrende Techniken, die beim Redigieren ihre Anwendung finden, wie zum Beispiel das Überprüfen einer immanenten Logik der einzelnen Handlungselemente. Dabei ist es nicht nur wichtig, sich auf das Potential des Textes einzulassen, sondern auch den Text im Detail zu erfassen und nachzuvollziehen. Redigieren als Verfahren ist immer ein Dialog auf Augenhöhe mit dem Text. Das poetische Potential liegt dabei im Erkennen des Textpotentials selbst, das im gelesenen Text vorhanden ist oder darin vermutet wird. Der externe Blick, der beim Redigieren eingesetzt wird, ist dabei das entscheidende Werkzeug. Dieser Blick bedarf eines Mischverhältnisses aus Distanz und Nähe, das es möglich macht, die individuelle Machart eines Textes zu erkennen und im folgenden Arbeitsprozess zu schärfen.

Dieses Mischverhältnis beschreibt auch die Tätigkeit, die beim Redigieren ausgeführt wird: Der Redigierende nimmt sich einerseits aufmerksam verfolgend zurück, um andererseits aktiv mäeutisch einzugreifen. Der Moment zwischen Lesen und Eingreifen ist der Moment, in dem das poetische Potential des Redigierens selbst spürbar wird. Das poetische Potential des Redigierens ist allerdings kein selbstgenügsames. Es kommt nicht darin zur Geltung, dass der Redigierende sich selbst mit seinen Ansichten und Meinungen einbringt, sondern darin, dass das Potential des gelesenen Textes freigelegt und aufgehellt wird. Diese Freilegung und Aufhellung geschieht in einem Spannungsverhältnis, in dem sich der Redigierende weder über den Text stellt, noch sich ihm unterordnet.

Auch wenn das Redigieren eine fertige Textfassung zum Ziel hat, ist es nicht zwangsläufig der letzte Schritt in einer linear verlaufenden Kette von Arbeitsabläufen. Vielmehr ist es häufig der Auslöser für einen zirkulär verlaufenden Arbeitsprozess, der einen Dialog auslöst und dem Text zu einer Akzentuierung der ihm eigenen Form verhilft.

05. 11. 09 /// Franziska Soehring

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R. im Kontext journalistischen Schreibens: Heinrich von Kleist, Berliner Abendblätter (1810) /// Die Anfänge des R.: Jakob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen (1812) /// R. eigener Aufzeichnungen als Teil des Schreibprozesses: Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise (1817) /// R. als negativer Eingriff: Elisabeth Förster-Nietzsches Herausgabe von Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht (1906) /// Probleme und Verdienste des R.s an der Entstehung und Veröffentlichung eines literarischen Werkes: Max Brods Herausgabe der Werke Franz Kafkas, Der Prozess (1925)

05. 11. 09 /// F.S.

← Forschungsliteratur →

Clarissa Blomqvist, Über die allmähliche Veränderung der Nachricht beim Redigieren, Frankfurt am Main 2002 /// Ulla Fix, Redebewertung beim Lektorieren und Redigieren aus der Sicht des Linguisten, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1988 /// Melitta Gerhard, Die Redaktion der “Italienischen Reise” im Lichte von Goethes autobiographischem Gesamtwerk, in: dies., Leben im Gesetz. Fünf Goethe-Aufsätze, Bern/München 1966 /// Ivo Hajnal und Franco Item, Schreiben und Redigieren – auf den Punkt gebracht!, Frauenfeld/Stuttgart/Wien 2009 /// Sibylle Peters, Was ist „Redaction“?, in: Heinrich von Kleist und der Gebrauch von Zeit. Von der Machart der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003 /// Helmut Sembdner, Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion, Berlin 1939 /// Klaus Siblewski, Die diskreten Kritiker. Warum Lektoren schreiben – vorläufige Überlegungen zu einem Berufsbild, Aachen 2005 /// Ute Schneider, Der unsichtbare Zweite, Göttingen 2005

05. 11. 09 /// F.S.

↑ Postskriptum ↑

Der Begriff des Redigierens stammt aus der Redaktions- und Lektoratssprache und ist hier allein auf literarische Texte bezogen worden. Darüber hinaus gibt es auch ein handwerkliches Redigieren, das nach einem speziellen System funktionieren kann und damit zum Beispiel den internen Regeln einer Zeitung oder Zeitschrift oder eines Verlags folgt, beziehungsweise auf ein bestimmtes Publikum hin geschieht und beispielsweise den Aspekt der „Lesbarkeit“ berücksichtigt. Redigieren ist hier in Abgrenzung zum Lektorieren dargestellt und zwar in der Auffassung, dass beim Lektorieren der Akzent stärker auf dem Akt des Lesens liegt, beim Redigieren hingegen der Akt des Eingriffs im Vordergrund steht.

Der Akt des Eingriffs kann auch eine negative Wirkung auf den Text haben, die oben nicht angesprochen wurde. In diesem Fall vertritt der Bearbeitende nicht die Position des Textes, sondern die eines Dritten, zum Beispiel seine eigene. Ein Beispiel für die selbstmotivierte Redaktion sind die Eingriffe Elisabeth Förster-Nietzsches in die Texte ihres Bruders Friedrich Nietzsche vor deren Veröffentlichung. Die stark selektive Bearbeitung ließ ihre eigene nationalsozialistische Überzeugung in den Texten ihres Bruders hervortreten.

Zu den ersten Redakteuren im größeren Stil sind die Gebrüder Grimm zu rechnen, die als erste eine systematische und wissenschaftlichen Prinzipien verpflichtete Sammlung der sogenannten „Poesie des Volkes“ herstellten. In der Vorrede der Kassler Handexemplare der Kinder- und Hausmärchen heißt es: „Was die Weise betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen haben […]“ (aus: Kasseler Handexemplare mit zahlreichen Notizen und Ergänzungen von Jacob und Wilhelm Grimm. 2 Bände. Berlin 1812/1815. Zu finden unter www.grimms.de.) Dennoch: Jacob und Wilhelm Grimm haben die Texte stilistisch bearbeitet und ihrer Vorstellung von Volkspoesie gemäß umgeformt.

Die für die Veröffentlichung wichtige Aufgabe des Redigierenden zeigt sich in der Freundschaft zwischen Franz Kafka und dessen Verleger Max Brod. Kafka selbst verfügte, seine Schriften nach seinem Tod zu vernichten: „Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (Die paar Exemplare der ‘Betrachtung’ mögen bleiben, ich will niemandem die Mühe des Einstampfens machen, aber neu gedruckt darf nichts daraus werden.) Wenn ich sage, daß jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, daß ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.“ (Verfügung an Max Brod vom 29. November 1922. Max Brod zitiert Kafka im Nachwort zu Der Prozess, Fischer Verlag, 1986, S. 224). Statt dieser Anweisung nachzukommen, ließ er die Text Kafkas publizieren und machte sie in einigen Fällen auch druckfertig, indem er Fragmente ordnete und betitelte. Ob es sich dabei um ein „lesbar machen“ oder um eine Verfälschung handelt, bleibt eine offene Frage.

05. 11. 09 /// F.S.

auslöschen

↓ auslöschen ↓

Auslöschen heißt, Schrift beseitigen, oder im übertragenen Sinne, etwas endgültig entfernen, abschaffen, vernichten. Die zwei Bedeutungen gelten sowohl für den alltäglichen als auch für den poetologischen Gebrauch des Wortes. In der Alltagsprache bezieht sich das Auslöschen entweder auf eine Person, eine Personengruppe oder eine ganze Kultur. Oder es bezieht sich auf einen Sachverhalt oder einen Strukturzusammenhang wie den von Gedächtnis oder Erinnerung. Auslöschungsprozesse vollziehen sich meistens durch Gewaltmaßnahmen, die bis zu Massenzerstörungen hinreichen können. Die Gewaltdimension von Auslöschungen bleibt auch im künstlerischen Bereich bewahrt, wo sie im Abschaffen bzw. in der Tendenz zum Abschaffen eines bestimmten Inhalts oder einer bestimmten Form oder Materie im jeweiligen Schaffensprozess besteht. Je nach Art des auslöschenden Eingriffs kann das Abschaffen auf strikt poietischer, poetischer oder poetisch-poietischer Ebene des künstlerischen Schaffens erfolgen. Die poietische Ebene meint die Ebene der materiellen und technischen Hervorbringung eines Werkes oder eines literarischen/künstlerischen Ereignisses, die poetische die der erzeugten strukturellen Wirklichkeit oder Unwirklichkeit innerhalb eines Werkes oder Werk­ereignisses. Die poetisch-poietische Ebene bedeutet schließlich die Verschränkung beider Bereiche.

Auf poietischer Ebene meint das Verfahren der Auslöschung das faktische Reduzieren des künstlerischen Stoffes, etwa der Schrift als graphisches Material, auf manchmal zusammen­hangslose Komponenten bis hin zur totalen Destruktion der Vorlage. Durch die Verwertung von mehr oder weniger radikalen Reduktionsmitteln wie Ausradierungen, Tilgungen, Löschungen entsteht ein Werk, das sich als produktive Summe aus dem Rest des Reduktionsverfahrens und der Spur der reduzierten Komponenten darbietet. Möglich ist auch die Durchführung eines extremen Reduktionsverfahrens wie das der Verbrennung oder Sprengung in verschiedenen performativen Kunstformen.

Auf poetischer Ebene geht es um das Demontieren bestimmter Kategorien des literarischen/​künstlerischen Schaffens, die aus konzeptuellen Gründen als unhaltbar und daher verwerfens­wert eingeschätzt werden. Als Gegenstände der Demontage können gelten: die Wirklichkeit, die Geschichte, die Tradition, die Referenzen schlechthin, die Autorschaft, die Philosophie, die Ideologie, die Figuren, der Ausdrucksmodus, die erzählerischen Zusammenhänge, schließlich kanonische Werke oder eigene Werke. Durch Minimalisierung, Entleerung, Zerspiegelung, extreme Perspektivierung, Protokollierung, Essayismus, restlose Kritik, aggressive Über­arbeitung usw. werden die ‚Hass‘-Objekte in dem betreffenden Werk auseinander genommen und bis zur Auflösung negiert.

Auf poetisch-poietischer Ebene bezeichnet Auslöschen das Unterwandern des Werk-Körpers selbst, etwa des Schriftkörpers durch technische Mittel wie: spiralartiger Satzbau, Wieder­holungen verschiedener Einheiten, klaustrophobische Baustruktur des Textes u.a. Die negierende Dynamik des Werks geht in diesem Fall über die abstrakte Logik der poetischen Prinzipien hinaus auf die konkrete Logik der Körperlichkeit. Indem das Werk einen Körper entwickelt, der mit seiner Progression paradoxerweise zusammenschrumpft und umgekehrt gerade durch seine kontinuierliche Regression heranwächst, funktioniert das betreffende Werk nicht nur in gewaltsamer Auseinandersetzung mit verschiedenen Kategorien des Schaffens, sondern vielmehr gegen sich selbst als gerade diesen Körper.

Als ausschlaggebende Kriterien für die Beschreibung des Auslöschens als poetisches Verfahren fungieren demgemäß zwei Hauptoppositionen: materiell/strukturell (poietisch/poetisch) und transitiv/reflexiv (poetisch/poetisch-poietisch). Egal nach welchen Kriterien man Auslöschen als Prozess definieren möchte, im Grunde genommen handelt es sich stets um ein aporetisches Verfahren, da eine restlose Auslöschung unmöglich ist. Auslöschungen produzieren stets einen Rest, der materiell oder thematisch auf das Verfahren zurückwirkt, sofern es als Verfahren noch erkennbar bleibt. Das Begehren, etwas auszulöschen, produziert mithin – für Außenstehende – das Objekt der Auslöschung erst: als Thema eines Textes zum Beispiel. Je stärker dieses Begehren sich artikuliert, desto stärker wird es in eine Bewegung der Verschiebung hineingerissen: vom Objekt zum Thema bis hin zur Artikulationsform des Begehrens selbst. Das produktive Potential des Auslöschens entfaltet sich dort, wo die Unmöglichkeit einer restlosen Auslöschung selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird, d.h. zum Anlass, den Verschiebungen nachzugehen, die aus der Unmöglichkeit einer vollständigen Auslöschung resultieren.

14. 10. 09 /// Alina Voica

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A. als Verschwinden der Schrift im Körper: Franz Kafka, In der Strafkolonie (1919) /// A. als graphische Desartikulation: Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924-1925 /// A. als agonales Verhalten in der historischen Avantgarde /// A. als Zerfall der Sprache, beispielsweise im Werk von Samuel Beckett /// A. als Negation der Referenzen im Nouveau Roman /// A. als Verschwinden des Selbst in der Sprache: Maurice Blanchot, L’espace littéraire (1955), Le livre à venir (1959) /// A. als Zerstörung von Kulturgegenständen im Nouveau Réalisme (60er Jahre) /// A. als ‚auto-destructive art‘: Gustav Metzger, Manifest der autodestruktiven Kunst (1960), Destruction in Art Symposium (London, 1966) /// A. als Selbstverstümmelung im Wiener Aktionismus (60er und 70er Jahre) /// A. als „Ruinisierung von Gegenständen“ (Jean Baudrillard) in Happenings /// A. als Verschwinden des Autors: Michel Foucault, Qu’est qu’un auteur (1969) /// A. als „effacement des différances“ in der Dekonstruktion: Jacques Derrida, L’écriture et la différence (1967), De la grammatologie (1967) /// A. als Demontage fremder Werke in der ‚Postmoderne‘ /// A. als werkimmanentes Schreibprogramm: Thomas Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall (1986) /// A. als Tippex-Verfahren: Uljana Wolf & Christian Hawkey, Buchobjekt. SONNE FROM ORT. Erasures (2008)

14. 10. 09 /// A.V.

← Forschungsliteratur →

Sebastian Baden (Hrsg.), Terminator: Die Möglichkeit des Endes. Bewältigung und Zerstörung als kreative Prozesse in bildender Kunst, Literatur und Musik, Karlsruhe 2008 /// Karl Heinz Bohrer, Ästhetik des Schreckens, München/Wien 1978 /// Hanno Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung: Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001 /// Eva Geulen, Das Ende der Kunst. Lesearten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt am Main 2002 /// Gerald Graff, Literature against itself. Literary ideas in Modern Society, Chicago 1979 /// Justin Hoffmann, Destruktionskunst. Der Mythos der Zerstörung in der Kunst der frühen sechziger Jahre, München 1995 /// Georg Jansen, Prinzip und Prozess Auslöschung. Intertextuelle Destruktion und Konstruktion des Romans bei Thomas Bernhard, Würzburg 2005 /// Ulrich Treichel, Auslöschungsverfahen. Exemplarische Untersuchungen zur Literatur und Poetik der Moderne, München 1995 /// Gernot Weiß, Auslöschung der Philosophie. Philosophiekritik bei Thomas Bernhard, Würzburg 1993

14. 10. 09 /// A.V.

↑ Postskriptum ↑

Künstlerisches Schaffen als produktiver Prozess schließt Zerstörungsaktionen nicht aus. Man fragt sich sogar, ob diese nicht etwa Verinnerlichungsformen einer gewissen (selbst)destruktiven Tendenz der Kunst von jeher darstellen und kündigt folgerichtig entweder das Ende der Kunst oder hingegen ihre permanente Regeneration gerade über das schöpferische Potential der Zerstörung an. Ob verdüstert oder zuversichtlich versucht man allerdings in beiden Fällen, den Anteil der destruktiv angelegten Gesten an dem künstlerischen Schaffen zu bestimmen und stellt generell fest, dass Schaffen nicht nur Anhäufung, Vermehrung oder Wachstum bedeutet – weder im materiellen noch im strukturellen Sinne – , sondern paradoxerweise auch Reduktion, Minderung, Entschwinden.

Der Begriff des Auslöschens überspannt ein breites Spektrum poetischer Verfahren, die diese negative produktionsästhetische Seite des Schaffens ausmachen. Seine Ambiguität, die mit dem Schwanken zwischen einer technischen und einer quasi metaphorischen Valenz zusammenhängt, stellt seine Grenzen allerdings in Frage, macht ihn in poetologischer Hinsicht andererseits noch spannender, gerade weil er sich nicht ausschließlich als terminus technicus definieren lässt. Ohne sich mit je einer seiner Bedeutungen abdecken, und auch nicht mit dem viel zu weit reichenden und unspezifischen Begriff des Zerstörens überdecken zu können, ist ‚Auslöschen‘ als poetologischer Begriff im Grunde genommen unersetzbar. Darüber hinaus kann er ja sowohl auf das literarische als auch auf das künstlerische Schaffen überhaupt bezogen werden, was unweigerlich von seiner poetologischen Produktivität im weiteren Sinne zeugt.

14. 10. 09 /// A.V.

notieren

↓ notieren ↓

Notieren bezeichnet den Akt der kurzen, unmittelbaren Aufzeichnung. Der Impuls etwas aufzuzeichnen, setzt eine grundsätzliche Bereitschaft zur Schreibpraxis des Notierens voraus. Hingegen das Notieren, als Ergebnis eines Impulses, ist unplanbar. Dabei ist der Vollzug des Notierens nicht unbedingt von einem konkreten Schreibort abhängig und kann durchaus draußen passieren, zum Beispiel auf der Straße, in einem Café, einem Club oder während einer Seminarsitzung. Meistens dient das Notieren dem Festhalten von Wahrnehmungen oder spontanen Erinnerungen, aber auch von plötzlichen Einfällen. Die an die Schreibsituation gebundene Offenheit des Notierens erfordert darüber hinaus einen raschen Zugriff auf Schreibutensilien, z. B. Bleistift und Zettel, Notizheftchen, Handy. Notieren ist eine ephemere Schreibpraxis, die aber selbst Dauerhaftigkeit herstellen will, wenn auch zunächst nur vorübergehend. Denn das Notierte besteht oft nur aus einfachen Stichworten, Skizzen, wenigen Sätzen oder Fragmentarischem.

Strukturell ist das Notieren in seinem Vollzug ein singulärer Akt, der sich jedoch im Hinblick auf Äußerlichkeiten (Schreiborte, -utensilien, -zeiten) sowie auf das, was notiert wird (Themen, Motive, Personen), wiederholen kann. Rührt die Bereitschaft nicht aus einer bloßen Lust an dieser Schreibpraxis, ist das Notieren vor allem ein Hilfsmittel, um einen anschließenden Text vorzubereiten. Das Notieren kann also von einem Zweck bestimmt sein, der das Notat zu einer Grundlage für eine Abschrift oder eine Überarbeitung, eine Einbettung in einen bestimmten Kontext, macht. Das kann ein Roman oder Drama, ein Essay oder eine Reportage ebenso wie ein Gedicht sein. Der wesentliche Ansatz des Notierens ist dann von einem Plan bestimmt, der den Schreibimpuls auf ein Thema, einen Stoff, eine Haltung hin motiviert.

Das poetische Potential des Notierens besteht darin, dass es in der Schwebe lässt, was aus dem Notierten tatsächlich folgen soll, selbst wenn es auf eine solche Folge hin angelegt ist. Ein Spielraum möglicher Fortsetzungen ist somit bereits im Akt des Notierens wirksam, insofern statt einer finalen Determination von Bedeutungen eine Vorstruktur notiert wird, die stets auch eine Weiterverwendung zulässt. Die textuelle Rekursion auf das Notierte steht in ihrer verzögerten Reaktion als langsame, bedeutungsvolle Schreibgeste der Plötzlichkeit des Notierens entgegen. Notieren als poetisches Verfahren ist daher immer auch von der Möglichkeit des Rückgriffs abhängig, der der Notiz Wert beimisst, indem er das Notierte in einem bestimmten Licht erscheinen lässt.

12. 08. 09 /// Sebastian Polmans

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N. als intimer Akt: Roland Barthes, Journal de deuil (2009) /// N. als Reisetagebuch: ders., Carnets du voyage en chine (2009) /// Als Romanform: Thomas Pletzinger, Bestattung eines Hundes (2008) /// N. als Arbeitsheft: Peter Weiss, Notizbücher 1960-1971, Bd. 2 (1982) /// N. als Tagebuch: Cesare Pavese, Tagebuch 1935-1950 (1956) /// N. als Akt der Sammlung: Walter Benjamin, Passagenwerk, Bd. 1 und Bd. 2 (1982) /// N. als ‚System‘: Paul Valéry, Cahiers/Hefte 1 (1987) /// N. zunächst als Romanentwurf, dann als eigenständiges Notizheft: Peter Handke, Das Gewicht der Welt (1977) /// Als Arbeits- und Lebensform: Ludwig Hohl, Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung, Bd. 1 (1944) und Bd. 2 (1954)

12. 08. 09 /// S.P.

← Forschungsliteratur →

Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt am Main 2009 (Sitzung vom 16. Dezember 1978 und vom 3. März 1979) /// Marbacher Katalog: W. G. Sebalds Unterwelt, Marbach 2009 /// Paul Valéry, Zur Theorie der Dichtkunst, Frankfurt am Main 1991 (S. 12-16: Über die literarische Technik, S. 44-64: Rede über die Dichtkunst, S. 92-106: Notwendigkeit der Dichtkunst, S. 118-140: Antrittsvorlesung über Poetik am Collège de France) /// Christoph Hoffmann (Hg.), Daten sichern: Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Berlin 2008 /// Barbara Wittmann (Hg.), Spuren erzeugen: Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung, Berlin 2009

12. 08. 09 /// S.P.

↑ Postskriptum ↑

Als poetisches Verfahren legt die Praxis des Notierens ein Problem offen, insofern es aufgrund der Plötzlichkeit seines Vollzugs schwer zu erfassen ist. Zwar liegen, wie einige in den Wegmarken aufgeführten Beispieltexte, genügend Ergebnisse vor, doch die Funktionsweisen innerhalb des Akts selbst müssen wohl aus ähnlichen Ursachen weitestgehend unerforscht bleiben. Anders verhält es sich mit Äußerungen von Autoren zur Praxis des Notierens als Nutzen für ihre eigene Werkstatt. Interessant ist hierbei, dass nur wenige Autoren das Notieren als von quantitativen Textprojekten unabhängige Gattung begreifen, oder wie im Beispiel von Peter Handkes „Gewicht der Welt“ die Zweckbestimmtheit zu Gunsten der Praxis des unabhängigen Notierens aufgeben. Wobei hier die Frage nach Publikationsmöglichkeiten angeführt werden muss, denn selbst von arrivierten Autoren, wie Handke, Peter Weiss oder Roland Barthes wurden Notizbücher oder Journale erst nach ihren Erfolgen mit Langtexten veröffentlicht. Die Frage, die sich dem Notieren als poetischem Verfahren des gegenwärtigen Schreibens aufdrängt, scheint mir in der Gewissheit des Notierenden, das Notieren als subjektiven Akt zu erleben, zu liegen; eine Frage, die sich der Bedrohung durch den wie auch immer gearteten Rekurs auf das Notat stellen muss. Sätze wie von Paul Valéry (Cahiers 1, S. 45: „Ego/ Wenn ich in diese Hefte schreibe, schreibe ich mir, schreibe ich mich.“) oder Roland Barthes (Journal de deuil, S.21: „En prenant ces notes, je me confie à la banalité qui est en moi.”) verdeutlichen dies.

12. 08. 09 /// S.P.

übersetzen

↓ übersetzen ↓

Einen Text übersetzen meint, diesen in einer anderen Sprache wiederzugeben. Ein Sprachsystem kann unterschiedlich stark von einem anderen abweichen: auf der Ebene der Wortbedeutung, des Vokabulars, der Grammatik, des Schriftsystems und dessen Verhältnis zur Aussprache. Je mehr sich eine Sprache in den erwähnten Bestandteilen von einer anderen unterscheidet, desto schwieriger wird es sein, den Originaltext ohne Abweichungen zu übersetzen. Grundsätzlich gibt es zwei Wege mit dieser generellen Unübersetzbarkeit eines Textes umzugehen: den einer kommunikativen und den einer literarischen Übersetzung. Unabhängig davon, welcher der beiden Wege gewählt wird, setzt das übersetzende Schreiben eine eingehende Lektüre des Originaltextes voraus. Die Schreibbewegung des Übersetzenden steht somit stets in direktem Bezug zu einem bestehenden Text.

Die kommunikative Übersetzung sucht Möglichkeiten, die Unübersetzbarkeit zu umgehen, indem sie den Originaltext in Denkbilder überträgt und diese an die Logik und Funktionsweise der Zielsprache anpasst: für Redewendungen und gängige Metaphern werden Entsprechungen gesucht, Tonfall und rhetorische Mittel werden nach Möglichkeit in die Zielsprache übertragen. Der Text wird für eine neue Sprache zugänglich und verständlich gemacht um den Preis einer Verdrängung des Sprach- und Denksystems des Originaltextes.

Die literarische Übersetzung hingegen geht von der Unübersetzbarkeit eines Textes aus und setzt den Fokus auf sprachliche Besonderheiten des Originals: Es können Elemente des Textes (ein auffälliger Satzbau, ein prägnantes Schriftbild, eine markante Klangstruktur, eine bestimmte Mundart) in die Zielsprache übernommen werden, auch wenn sie deren Sprachsystem widersprechen. Das Ziel einer literarischen Übersetzung ist nicht, den Originaltext möglichst lückenlos in der Logik der Zielsprache abzubilden, sondern einer bestimmten sprachlichen Eigenart des Originals eine neue Präsenz in der Zielsprache zu gewähren. Das Sprachsystem des Originaltextes kann in die Zielsprache hineinwirken, ihre Regeln und Normen hinterfragen und in Bewegung bringen. Die dabei entstehenden Verschiebungen innerhalb der Zielsprache machen die Anwesenheit eines fremden Sprach- und Denksystems spürbar, bewährte Ästhetiken und Sprechweisen werden infrage gestellt, der Text kann eine neue literarische Form und Wirkkraft entfalten. Diese vielleicht ungewohnte neue Form kann derart irritieren, dass ein bestimmter Aspekt des Originals erst in der Übersetzung auffällt und sichtbar wird.

26. 07. 09 /// Johanna Stapelfeldt

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Wörtliches Ü. als biblische Exegese (427): Augustinus von Hippo, De doctrina christiana /// Unübersetzbarkeit (1704): Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais /// Umöglichkeit und Notwendigkeit des Ü.s (1816): Wilhelm von Humboldt, Einleitung zu Aeschylos Agamemnon metrisch übersetzt von Wilhelm von Humboldt /// Verfremdendes Ü. (1816): Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens /// Interkulturelles Ü. (1826): August Wilhelm Schlegel, Indische Bibliothek /// Formbetontes Ü. (1923): Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers /// Ü. als Technik (1946): Hermann Broch, Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens /// Ü. und Dekonstruktion (1987): Jacques Derrida, Des Tours de Babel /// Ü. als poetisches Verfahren (1996): Yoko Tawada, Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch /// Ü. als Praxis (2006): Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten

26. 07. 09 /// J.S.

← Forschungsliteratur →

Theresia Prammer, Übersetzen – Überschreiben – Einverleiben. Verlaufsformen poetischer Rede, Wien 2009 /// Gabriele Leupold, In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst, Göttingen 2008 /// Radegundis Stolze, Übersetzungstheorien, Tübingen 2008 /// Hartmut Böhme, Christof Rapp und Wolfgang Rösler (Hrsg.), Übersetzung und Transformation. Transformationen der Antike, Berlin 2007 /// Friedmar Apel, Literarische Übersetzung, Stuttgart 2003 /// Rainer Nägele, Über-setzen – Lesen zwischen Texten, Basel 2002 /// Reinhold Görling, Heterotopia. Lektüren einer interkulturellen Literaturwissenschaft, München 1997 /// Alfred Hirsch, Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt am Main 1997 /// Wilhelm Gössmann, Schreiben und Übersetzen. „Theorie allenfalls als Versuch einer Rechenschaft”, Tübingen 1994 /// Hans Joachim Störig, Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 1973 /// Fred Lönker, Die literarische Übersetzung als Medium der Fremderfahrung, Berlin 1992

26. 07. 09 /// J.S.

↑ Postskriptum ↑

Das übersetzende Schreiben wurde und wird in unterschiedlichen Disziplinen mit verschiedenen Voraussetzungen und Absichten untersucht und beschrieben; ob in der Philosophie, der Linguistik, der Semiotik, den Kognitions- oder Literaturwissenschaften, an Übersetzungstheorien mangelt es nicht. Ansätze, die bemüht sind die übersetzerische Tätigkeit als poetisches Schreibverfahren zu beschreiben sind hingegen eher rar. Um das poetische Potential der übersetzerischen Tätigkeit herauszustellen wurde ein Fokus auf das literarische Übersetzen gelegt, das weniger als das technische Übersetzen auf verständliche Texte zielt als vielmehr darauf, dem Text eine literarische Wirksamkeit zukommen zu lassen. Da allerdings die Übersetzung eines Textes immer auch ein gesellschaftlicher Akt ist, sind häufig Kompromisse notwendig, der Text muss bis zu einem gewissen Grad verständlich sein; dazu sind Mischformen kommunikativer und literarischer Übersetzung denkbar.

Übersetzen lässt sich als zwischensprachliche ebenso wie als innersprachliches Auslegen verstehen, auch das Übersetzen in ein anderes Zeichensystem, etwa von Musik in Sprache, kann gemeint sein; in dem vorliegenden Artikel wurde hingegen ausschließlich die zwischensprachliche Übersetzung beschrieben. Es mag jedoch möglich sein den hier entwickelten Ansatz auf andere Anwendungen des Übersetzungsbegriffs zu übertragen. Die weitgehende Kenntnis beider Sprachsysteme kann Voraussetzung für die übersetzerische Tätigkeit sein; es sind jedoch Verfahren vorstellbar, die gerade das Nicht-Verstehen einer Sprache nutzen, um produktive Verschiebungen zu erzeugen. Häufig sind in einer Übersetzung nicht nur zwischensprachliche Differenzen zu überwinden, sondern auch kulturelle und zeitliche. Auch diese Brüche können kommunikativ übertragen und unsichtbar gemacht werden oder eben literarisch wirksam übersetzt werden. Selbstredend kann dem hier als kommunikativ benannten Übersetzen ebenso ein poetisches Potenzial zugeschrieben werden wie dem literarischen.

26. 07. 09 /// J.S.

weitersagen

↓ weitersagen ↓

„Weitersagen“ bezeichnet eine Kulturtechnik der Rede: Die Rede nimmt auf eine andere Rede Bezug, indem sie diese anführt und mit sprachlichen Mitteln markiert, dass sie eine andere Rede anführt. Weitersagen kann als ein allgemeines Verfahren begriffen werden, das mittels der Redeanführung einen Rohstoff herstellt, der von den Kräften eines sprachlichen Gefüges insgesamt erfasst und zu spezifischeren Verfahren ausgeformt wird. Es gibt keine allgemeinen Regeln, wie im Einzelfall von einer Rede auf die angeführte Rede zu schließen ist. Das Weitersagen gebraucht häufig die indirekte Rede und vermischt narrativen (erzählenden) und performativen (handelnden) Modus der Rede. Wenn ein verbum dicendi den Sprechakt einleitet, überträgt es seine performative Funktion auf das gesamte Gefüge des Satzes: Weder sind dann die Funktionen der Redewiedergabe und der Redeinszenierung klar zu trennen, noch lassen sich konstative und performative Anteile der Rede, Sagen und Tun, Feststellung und Handlung, eindeutig scheiden.

Die indirekte Rede vermag Semantik und Referenz der Sprache einzutrüben und sogar in systematische Unbestimmtheit zu verstricken. Die grammatischen Regeln, wie eine direkte in die indirekte Rede zu transformieren sei, sind weniger wegen ihres normativen Gehalts fragwürdig, sondern weil sie über die grundlegende Dissymmetrie von direkter und indirekter Rede hinwegtäuschen. Jeder Hörer oder Leser muss den Schluss, wie von der indirekten auf die angeführte Rede zu schließen sei, für sich selbst vollziehen. Weil aber jeder Versuch einer Rekonstruktion der Rede, die der indirekten zugrunde liegt, die Umstände, in denen eine Äußerung ergangen ist, in Betracht ziehen, die Einstellung des Sprechers erschließen und die Kontexte berücksichtigen muss, eröffnet das Weitersagen ein Spiel mit der Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung, Wissen und Nicht-Wissen, Gesagtem und Nichtgesagtem. Insofern ist das Weitersagen etwa für die Techniken des Fingierens und Dokumentierens, die sprachliche Konstitution von Subjektivität bzw. Figurengestaltung, für die Darstellung sozialer Beziehungen oder auch die performative Gestaltung von Texten von Interesse.

In der Schreibpraxis sind neben der Verwendung bedeutungsgleicher Ausdrücke und semantischer Äquivalente vor allem die Gestaltung von Kontexten entscheidend für die Ausschöpfung des Potentials, das im Weitersagen steckt: Wer etwas weitersagt, verkompliziert die Beziehungen zwischen der Äußerung und ihrer Produktionsinstanz, indem er in seine Rede eine zweite sendende Instanz einträgt und somit eine Nahtstelle von Sprache, Diskurs und Machtverhältnissen kenntlich macht. Die Schreibpraxis vermag im Weitersagen zugleich zu thematisieren, welche performativen Kräfte auf das Sagen und das Weitergesagte einwirken, welches Übertragungsgeschehen in einer Rede stattfindet und welche Störungen die Mitteilung befallen. In solch einem Schreiben, das die Bedingungen und Regeln problematisiert, unter denen etwas weitergesagt wird, verliert die (mündliche) Rede ihre selbstverständliche Modellfunktion für das Weitersagen: Im Schreiben wird das Weitersagen zu einem Übertragungsgeschehen zwischen verschiedenen Medien.

17. 04. 09 /// Armin Schäfer

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W. als oratio obliqua (antike Rhetorik): Quintilian, Institutio oratoria X,7 /// W. als erste Sprachfunktion: Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, aus dem Französischen von Gabrielle Ricke und Ronald Voullé, Berlin 1992 /// W. in der Sprechakttheorie: John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things With Words), deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, 2. Auflage Stuttgart 1998; John Searle, „Indirect Speech Acts“, in: Peter Cole, Jerry L. Morgan (Hrsg.), Syntax and Semantics. Volume 3: Speech Acts, New York 1975, S. 59-82 /// zur Unterscheidung von Sinn und Bedeutung in der angeführten Rede: Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung, Göttingen 2002, S. 23-46 /// zur Logik der Anführung: Willard Van Orman Quine, Wort und Gegenstand (Word and Object), aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Dieter Birnbacher, Stuttgart 1993; Donald Davidson, Wahrheit und Interpretation, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1990 /// zur Logik des W.: Gilles Deleuze, Logik des Sinns, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, Frankfurt am Main 1993; Michel Serres, Der Parasit, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 1987 /// zur Zeitenfolge in der Redewiedergabe: Otto Behaghel, Die Zeitfolge der abhängigen Rede im Deutschen, Paderborn 1878 /// zur Literaturgeschichte des W. und Zitierens: Antonine Compagnon, La seconde main ou le travail de la citation, Paris: 1979 /// zum style indirect: Valentin N. Vološinov, Marxismus und Sprachwissenschaft. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, hrsg. und eingeleitet von Samuel M. Weber, Frankfurt am Main, Berlin, Wien: 1975; Pier Paolo Pasoloni, Ketzererfahrungen. „Empirismo eretico“. Schriften zu Sprache Literatur und Film, München, Wien: 1970 /// W. als Verkettung von Diskursarten: Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, aus dem Französischen von Joseph Vogl, München: 1987 /// W. als Sozialtechnik: Jürgen Brockhoff et al. (Hrsg.), Die Kommunikation der Gerüchte, Göttingen 2008 /// W. als Technik der Subversion: Judith Butler, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén, mit einem NachWort von Bettine Menke, Frankfurt am Main 2001

17. 04. 09 /// A.S.

← Forschungsliteratur →

Daniel Baudot (Hrsg.), Redewiedergabe, Redeerwähnung: Formen und Funktionen des Zitierens und Reformulierens im Text, Tübingen 2002 /// Marlies Becher, Der Konjunktiv der indirekten Redewiedergabe. Eine linguistische Analyse der Skizze eines Verunglückten von Uwe Johnson, Hildesheim 1989 /// Elke Brendel u.a. (Hrsg.), Zitat und Bedeutung. Linguistische Berichte. Sonderheft 15, Hamburg 2007 /// Daniel E. Collins, Reanimated Voices: Speech reporting in a histoical-pragamtic perspective, Amsterdam 2001 /// Florian Coulmas (Hrsg.), Direct and Indirect Speech, Berlin, New York, Amsterdam 1986 /// Nicole Fernandez-Bravo, „Geschichte der indirekten Rede im Deutschen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, in: Deutsche Sprache 2 (1980), S. 97-132 /// Andres Gather, Formen referierter Rede. Eine Beschreibung kognitiver, grammatischer, pragmatischer und außerlinguistischer Aspekte, Frankfurt am Main [u.a.] 1994 /// Manfred Harth, Anführung. Ein nicht-sprachliches Mittel der Sprache, Paderborn 2002 /// Elizabeth Holt (Hrsg.), Reporting talk: reported speech in interaction, Cambridge [u.a.] 2007 /// John Lucy (Hrsg.), Reflexive Language. Reported Speech and Metapragmatics, Cambridge [u.a.] 1993 /// François Recanati, Oratio Oliqua, Oratio Recta. An Essay on Metarepresentation, Cambridge (Mass.), London 2000 /// Jakob Steinbrenner, Zeichen über Zeichen. Grundlagen einer Theorie der Metabezugnahme, Heidelberg 2004 /// Eric Weidner, Konjunktiv und indirekte Rede. Subjonctif et style indirect, Göppingen 1992 /// http://www.zitatundbedeutung.uni-mainz.de (letzter Aufruf am 28.12.2008)

17. 04. 09 /// A.S.

↑ Postskriptum ↑

Der Terminus Weitersagen ist eine Sammelbezeichnung, die aus der Alltagssprache stammt, sich aber nicht als eigenständiger Begriff in Rhetorik, Linguistik oder Literaturwissenschaften etablieren konnte. Die Rhetorik beschreibt das Weitersagen als oratio obliqua, die Linguistik als indirekte Rede und die Literaturwissenschaft als style indirect oder als transponierte Rede.

Die Verfahren, die beim Weitersagen verwendet werden, können unter rhetorischen, poetologischen, text- und sprechakttheoretischen oder soziologischen Gesichtspunkten auch als Zitieren, Paraphrasieren, Nacherzählen, Bezeugen, Klatschen, Gerüchte verbreiten usw. beschrieben werden.

Die Forschung zu der hier unter der Sammelbezeichnung „Weitersagen“ gefaßten Kulturtechnik der Redeanführung ist u.a. in Philosophie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie verstreut. In der oben angeführten Forschung sind weniger Anleitungen für die Schreibpraxis zu finden als vielmehr Analysen spezifischer Techniken und Beispiele des Weitersagens sowie der hierdurch hervorgebrachten Effekte.

Die unter den „Wegmarken“ genannten Arbeiten formulieren zentrale Positionen, die für eine weitere Auseinandersetzung von besonderem Interesse sind. Insofern sie die Redeanführung in einem dichten Gefüge von sprachlichen und nicht sprachlichen Kräften situieren, zeigen sie ein Potential des Weitersagens auf, aus dem die Schreibpraxis schöpfen kann.

Die Anführung der Rede ermöglicht ein Spiel mit der Kommunikationssituation, mit der Semantik und Referenz sowie der Handlungsdimension und Inszenierung, und sie verleiht hierdurch der Sprache eine (zusätzliche) Wirkmacht, die weit ins Soziale und Politische hineinreicht: Das Weitersagen ist eine eigenständige Handlung, die mehr und anderes ist als die Erwähnung oder der Gebrauch einer vorgängigen Rede. Während das Zitat als die strengste Form der Anführung, weil es einen Quellenbeleg erbringen können muß, in seiner modernen Form – mit Markierung durch Anführungszeichen – eine vergleichsweise junge Erfindung ist, die aus dem 16. Jahrhundert stammt, kann das Weitersagen als eine primäre Sprachfunktion begriffen werden: Die Rede ist immer schon in eine Zirkulation geworfen, die verschiedenen Medien durchläuft und von ihnen angetrieben wird.

Das Weitersagen zieht die Rede insgesamt auf das Gebiet der Zeitlichkeit und unterstellt gerade Aussagen, die einen Anspruch auf Wahrheit enthalten, der Zeitlichkeit von Wahrheitsbedingungen. Der Begründer der modernen Zeitlogik, Alfred N. Prior, war einer der wichtigsten Theoretiker der Anführung. Er kann Folgendes zeigen: Wenn die Rede, die eine Aussage trifft, zwangsläufig einen Anspruch auf Wahrheit formuliert, insofern sie dem Prinzip der Bivalenz untersteht, wird die Rede, die eine andere anführt, in ein Spiel mit den Zeitlichkeitsbedingungen der Wahrheit hineingezogen.

Das Weitersagen wurde vielfach als eine Rede aufgefaßt, die sich unnötigerweise einer Gefährdung aussetze: Jedenfalls sei es besser mit eigener Stimme zu sprechen oder zu zitieren als etwas weiterzusagen. Das Weitersagen, so fürchtet Martin Heidegger, kann das in einer Aussage aufgezeigte wieder verhüllen: Es führt in die Sphäre des Man, des Geredes und Geschreibes und nicht zuletzt des Gerüchts.

Sobald das Weitersagen aber in das Zitat einbiegt, sei es, wie Michel Serres einmal spöttisch bemerkt, wieder auf dem sicheren Kurs in den Hafen der Bibliothek oder des Archivs, der Belege, der Autorität und der juristischen Regelungen. Jetzt kann die Aussage wieder zu ihrer vermeintlichen Quelle zurückverfolgt werden. Sobald man aber anfängt, die Kräfte der Mitteilung auf die Rede wirken zu lassen und sie dem parasitären Spiel der Medien zu überlassen, sind selbst die Anführungszeichen keine verläßliche Schmutzmacht mehr.

>Der Verdacht gegen das Weitersagen richtet sich also gegen eine Rede, die sich leichtfertig dem parasitären Spiel der Medien ausliefere und eine Komplizenschaft mit den Kräften der Mitteilung unterhalte. Denn das Weitersagen kann von der Anführung den Verweis auf den Sender abziehen und opake Kontexte herstellen, die weder eine Identifikation des Senders noch den Rückschluß auf die direkte Rede erlauben. Die Regeln des Duden, wie die direkte Rede in die indirekte zu verwandeln sei, sind nicht allein fragwürdig hinsichtlich ihres normativen Gehalts und von begrenzter Reichweite, sondern täuschen auch über die grundlegende Dissymmetrie von direkter und indirekter Rede hinweg.

17. 04. 09 /// A.S.

abschreiben

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Abschreiben heißt, eine schriftliche Vorlage schriftlich wiederzugeben. Von den Vorgaben der Vorlage abweichende Eigenaktivitäten unterlaufen diesen Vorgang – verändern das Vorgegebene im Umschreiben oder korrigieren es im Reinschreiben. Der/ die Abschreibende tritt in ein Verhältnis zum Vorgeschriebenen, indem er/ sie sich der Vorschrift unterwirft. Abschreiben heißt aber immer auch imitieren, aneignen oder einer Autorschaft zuschreiben – ob zu Übungszwecken, im Auftrag oder aber mit usurpatorischen, plagiierenden, mystifizierenden Intentionen. Das künstlerische Potential des Abschreibens ist in der Spannung zwischen reproduktivem Zweck und dem Vorgang zuwider laufenden Abweichungen vom Vorgeschriebenen zu suchen. Zur Beschreibung der Tätigkeit sind folgende Kriterien aufschlussreich: Erstens die Technik des Abschreibens, die Frage nach dem Wie, Womit und Worauf, zweitens der ökonomisch-pragmatische Sinn des Abschreibens, drittens die Differenz zwischen Vor- und Abschrift.

Dem Abschreiben liegt die Idee der Handschriftlichkeit zu Grunde, zumindest aber ist das schreibende lineare Abschreiten der graphematischen Textoberfläche wesentlich. Abschreiben unterscheidet sich darin von einem mechanischem Abpausen bzw. ähnlichem Durch- und Abdrücken und einem fotomechanischen Kopieren. Dies auch, wenn man die etwas veraltete deutsche, bzw. noch immer geläufige englische oder französische Bedeutung des Wortes ‚kopieren‘ (to copy, copier) berücksichtigt. Abschreiben scheint also gar nicht nur und nicht so sehr auf das Duplikat, eine Vervielfachung hinauszulaufen. In Abhängigkeit von der verwendeten Schreibtechnik verändern sich die Quellen und Potentiale der Abweichungen der Abschrift vom Vorgeschriebenem. Auf diese Abweichungen gründet sich der Eigensinn der Abschrift. Abweichungen reichen von der Umgestaltung des Schriftbildes bis hin zum Eingriff durch den Abschreiber/ die Abschreiberin, der/ die seine/ ihre eigentlich im Abschreiben nicht vorgesehene Eigenleistung als Fehlleistung, als Lapsus erbringt – ob als Verschreiber, Tintenklecks oder Vertipper.

Der Eigensinn der Schrift spielt beim Abschreiben die zentrale Rolle. Im Abschreiben zeigt sich, dass ein ‚bloßes‘ Abschreiben de facto unmöglich ist. Im Abschreiben falsifiziert sich die Annahme, dass die Materialität der Schrift den Sinn des Geschriebenen nicht beeinflusse. Gerade aus dem Eigensinn der Schrift erwächst im scheinbar rein zweckbestimmten Abschreiben ein zweckfreier Raum. Dies kann auch für das zweckgebundene Abschreiben, man denke an sakrale, bürokratische oder kulturtechnische Szenerien, behauptet werden. So kann es geschehen, dass die metaphysischen, ideologischen oder disziplinären Dispositive des Vorgeschriebenen gerade dadurch wahrnehmbar werden, dass die Vorschrift reproduziert wird, das Vorgeschriebene also erst durch das Abschreiben als solches sicht- und lesbar wird. Genau darin scheint der künstlerische Reiz des Abschreibens, jener auf den ersten Blick so unkreativen Tätigkeit, zu liegen. Die materiale Differenz zwischen Vor- und Abschrift ermöglicht eine künstlerische bzw. kulturelle Umwertung der Tätigkeit des Abschreibens und der dem Abschreiben impliziten Dynamiken des Wiederholens, Abweichens, Übertreffens und Veränderns. Zwischen auratischer Vorschrift und entauratisierter Reproduktion ist dann der Abschreiber/ die Abschreiberin als die Autorin/ der Autor zu fassen. Auch wenn seine Autorität die der Schrift ist.

24. 02. 09 /// Brigitte Obermayr

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