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affirmieren

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Affirmieren meint das Bejahen und Bestätigen bereits vorhandener künstlerischer oder außerkünstlerischer, beispielsweise politischer Formen, Gesten oder Inhalte. Als Schreibweise besteht Affirmieren nicht im bloßen Wiederholen, Nachahmen oder Kopieren eines bereits vorhandenen Textes. Vielmehr handelt es sich um eine schon bewertende Handlung, die einen Referenztext oder -gegenstand in der Art und Weise der Bezugnahme seiner Bedeutung versichert. Affirmiert wird jedoch nicht nur, um den Referenztext im Nachhinein zu bestätigen, sondern um den eigenen (künstlerischen) Anspruch durch die Bezugnahme überhaupt erst herzustellen. Eine Affirmation weist dementsprechend in zwei Richtungen: Sie geht mit einer Bestätigung des Anderen und eine Aufwertung des Eigenen einher. Ohne Referenzobjekt ist Affirmieren nicht möglich.

Anzutreffen sind affirmierende Schreibweisen vor allem in ideologischen Zusammenhängen, vor allem in politisch verordneten künstlerischen Epochen, aber auch in sämtlichen epigonalen Strömungen. In Letzteren werden vorangegangene Epochen und Schreibweisen durch eine Nachahmung bestätigt und befestigt. In Ersteren kann Tendenziosität, die Affirmation einschließt, geradezu als notwendige Voraussetzung einer künstlerischen Äußerung gefordert sein.

Künstlerisch interessant wird das Affirmieren allerdings erst dann, wenn das Wiederholen oder Kopieren mit einer ihrerseits produktiv werdenden minimalen Abweichung erfolgt. Solche künstlerischen Verfahren sind unter der Bezeichnung ‚subversive Affirmation‘, ‚negative Affirmation‘, ‚Überidentifizierung‘ oder ‚Revolution des Ja‘ bekannt geworden. Subversives Affirmieren bezeichnet ein Verfahren, besser eine künstlerische Taktik, die es Schriftstellern und Künstlern erlaubt, an einem bestimmten künstlerischen, gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Diskurs teilzunehmen, ihn zu bestätigen, ihn sich anzueignen oder zu konsumieren und dabei gleichzeitig zu unterwandern. Taktiken dieser Art zeigen sich immer dort, wo der Literatur- und Kunstbetrieb entweder von besonders starken Restriktionen geprägt ist oder wo versucht wird, mit subversiven und parasitären Mitteln herrschende Diskurse auszuhebeln.

Um subversiv affirmieren zu können, ist immer ein Erforschen der jeweiligen Folie nötig. Wenn etwas in seinem Funktionieren entblößt werden soll, muss man in der Lage sein, dieses Funktionieren in all seinen Nuancen zu verstehen und zu kopieren. Für die Betrachter, Zuschauer oder Teilnehmer soll es darum gehen, mit dem Effekt einer doppelten und in sich widersprüchlichen Rezeption konfrontiert zu werden, mit dem Erleben einer Situation und der Möglichkeit, das Genießen, Bejahen oder Bestätigen der Situation gleichzeitig oder im Nachhinein zu reflektieren oder gar abzulehnen. Die Gefahr und auch der Reiz subversiver Affirmation besteht darin, dass sie als solche nicht erkannt wird, sondern – ohne jegliche Auflösung – als bloße Nachahmung rezipiert wird.

Unterscheiden lassen sich ganz unterschiedliche Varianten negativer oder subversiver Affirmation. Subversiv affirmiert werden können künstlerische oder außerkünstlerische Formen, Strukturen, Techniken oder Verfahren, indem diese mit gänzlich widersprechenden Inhalten versehen oder selbst in einem nicht vorgesehenen Rahmen platziert werden.

22. 02. 09 /// Sylvia Sasse

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„Subversive Affirmation“ als Verfahren im Kontext der künstlerischen Praktiken des Moskauer Konzeptualismus und der SOZ-Art: in der Malerei bei Ėrik Bulatov, Ilya Kabakov; in der Performance-Art u.a. bei Anatolij Žigalov in dessen Aktion „Goldener Subbotnik“, den Fliegenpilzen (Muchomory) oder den Weltmeistern (Čempiony mira), in literarischen Texten von Vladimir Sorokin, u.a. in seinem Roman „Roman“, in der Dichtung von Dmitrij Prigov /// „Negative Affirmation“ und „Revolution des ‚Ja‘“ als Begriff und Verfahren bei Bazon Brock seit den frühen 60er Jahren, auch: „Affirmation als Vermittlungsstrategie, Affirmation als Widerstand“, Brock sieht Vorläufer bei Till Eulenspiegel und Friedrich Nietzsche /// „Überidentifikation“ als Begriff von Slavoj Žižek, bezeichnet jene Verfahren, mit denen die Gruppen Laibach, NSK und IRWIN in Slowenien gearbeitet haben /// Vereinzeltes Auftauchen des Verfahrens bei den Lettristen, in der Situationistischen Internationale und in der politischen Kunst der 1970er Jahre /// seit 2000 explizite Nennung des Verfahrens in politischen und künstlerischen Kampagnen: Deportation-Class, Christoph Schlingensiefs „Bitte liebt Österreich!“ (vote-auction.com), Aktionen von The Yes Men und der amerikanischen Aktivistengruppe RTMark

22. 02. 09 /// S.S.

← Forschungsliteratur →

Inke Arns, Neue Slowenische Kunst, Regensburg 2002 /// Inke Arns und Sylvia Sasse, „Subverzivna afirmacija: o mimezisu kot strategiji upora (Subversive Affirmation. On Mimesis as a Strategy of Resistance)“, Maska Letnik XIX/ 3-4 (98-99) 2006, S. 5-17 /// autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blissett und Sonja Brünzels, Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin und Hamburg 1998 /// Bazon Brock, „Eulenspiegel als Philosoph – Affirmation als Vermittlungsstrategie“, in: ders.: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten, Köln 1977 /// Diedrich Diederichsen, Das Madonna-Phänomen, Hamburg 1993 („affirmative Subversion“) /// Michel Foucault, „Vorrede zur Überschreitung“, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main 1991 /// Boris Groys, „The Irwin Group: More Total than Totalitarianism“, in: Kapital. Katalog, hrsg. von Irwin, Ljubljana 1991. /// Sylvia Sasse und Caroline Schramm, „Totalitäre Literatur und subversive Affirmation“, in: Die Welt der Slaven LXII (1997), 306-327 /// Slavoj Žižek, „Why are Laibach and NSK not Fascists?“,M’ARS – Časopis Moderne Galerije V/3.4 (1993), 4

22. 02. 09 /// S.S.

improvisieren

↓ improvisieren ↓

Improvisieren heißt, etwas ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif oder ad hoc dar- oder herzustellen. Vom Wort her ist das »Improvisierte«‚ das Nicht-Vorhergesehene: das Unvorhergesehene. Im Unterschied zum planenden Schreiben, bei dem die Absicht besteht, einen bereits gefassten Gedanken oder eine im Kopf bereits entworfene Geschichte möglichst unmittelbar und widerstandsfrei aufs Papier zu bringen, besteht improvisierendes Schreiben darin, Einfälle zuzulassen oder zu provozieren, um diese simultan in den Schreibprozess und in das schließlich Geschriebene eingehen zu lassen. Schreibend improvisieren heißt jedoch nicht, schlechthin planlos zu verfahren, denn der Entschluss, nicht-planvoll vorzugehen, kann seinerseits mit Absicht vorgenommen werden. Es geht dann darum, einen Freiraum zu schaffen, in dem es möglich wird, unvorhergesehene Einfälle, situativ bestimmte Assoziationen und kontextuell motivierte Eindrücke schreibend festzuhalten, zu variieren und schließlich in eine syntaktische Struktur zu überführen.

Dabei ist es zwar grundsätzlich nicht möglich, den Prozess des Improvisierens bruchlos in das schriftlich schließlich Fixierte über- und eingehen zu lassen: Die mediale Differenz bleibt unüberbrückbar. Wohl aber ist es möglich, die Differenz zwischen Prozess und Fixierung, Bewegung und Stillstand, Anfangen und Enden, ihrerseits als Spielraum zu begreifen, der ins schließlich Geschriebene Momente von Unvorhersehbarkeit, Offenheit, Dynamik einträgt. So wird es letztlich auch möglich, geschriebenen Texten einen improvisatorischen Charakter oder eine entsprechende Rhythmik zu verleihen.

Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Konzepte des Improvisierens unterscheiden. Das eine – artistische – Konzept besteht darin, Improvisieren als Kunst zu verstehen, die erlernt und eingeübt werden kann und die letztlich darin besteht, eine sich plötzlich einstellende Schwierigkeit beim Schreiben durch antrainierte Kunstgriffe zu lösen. Das andere – experimentelle – Konzept besteht darin, es gerade darauf anzulegen, eine Aufgabenstellung oder eine Situation, die nicht ohne weiteres bewältigt werden kann, zu provozieren, um sich selbst auf neue Ideen zu bringen und neue Verfahren der Wortfindung und -reihung zu erproben. Während das erste Konzept darauf hinausläuft, den Prozess des Improvisierens immer schon in einem Ensemble von bekannten und erlernbaren Regeln zu verorten, steht im zweiten Konzept die Motivation im Vordergrund, die Unkalkulierbarkeit der Zukunft als Chance zu begreifen.

07. 01. 09 /// Sandro Zanetti

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I. als rhetorische Fertigkeit (antike Rhetorik): Quintilian, Institutio oratoria X,7 /// I. als Vorstufe zur Dichtung (historisch und individuell): Aristoteles, Poetik 1448b [20] /// I. in der italienischen Renaissance: Commedia dell’Arte /// I. im romantischen Sprachdenken (1798): Novalis, „Monolog“ /// I. als Mittel der Gedankenfindung (1805): Heinrich von Kleist, „Über die allmählige [sic!] Verfertigung der Gedanken beim Reden“ /// Der Improvisator als literarische Figur in der Spätromantik (1835): Andersen, Der Improvisator /// I. als Schreibverfahren im Surrealismus (1924): Breton, Erstes Manifest des Surrealismus /// I. als provoziertes Verhalten im Situationismus (1955-58): Debord, „Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie“, „Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung“, „Vorbereitende Probleme bei der Konstruktion einer Situation“ /// I. als Basteln (1962): Lévi-Strauss, Das wilde Denken (Kap. 1) /// I. im ‚glatten Raum‘ (1980): Guattari/Deleuze,Tausend Plateaus (Kap. 14) /// taktisches I. (1980): de Certeau Kunst des Handelns (Kap. 3)

07. 01. 09 /// S.Z.

← Forschungsliteratur →

Christopher Dell, Prinzip Improvisation, Köln 2002 /// Angela Esterhammer, „The Cosmopolitan Improvvisatore: Spontaneity and Performance in Romantic Poetics“, in: European Romantic Revue16,2 (April 2005), S. 153-165 /// Uwe Klawitter, „Improvisation“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, S. 307-314 /// Robert Henke, Performance and Literature in the Commedia dell’Arte, Cambridge 2002 /// Chris Holcomb, „‚The Crown of All Our Study‘. Improvisation in Quintilian’s Institutio Oratoria“, in: Rhetoric Society Quarterly31, No. 3, Summer 2001, S. 53-72 /// Keith Johnstone, Theaterspiele. Spontaneität, Improvisation und Theatersport, deutsch von Christine und Petra Schreyer, Berlin 1998 /// Ronald Kurt und Klaus Näumann (Hrsg.), Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2008 /// Kenneth and Laura Richards, The Commedia dell’Arte. A documentary history, Oxford 1990 /// Wiktor Weintraub, „The Problem of Improvisation in Romantic Literature“, in: Comparative Literature 16,2 (Spring 1964), S. 119-137

07. 01. 09 /// S.Z.

↑ Postskriptum ↑

Einige der unter den „Wegmarken“ genannten Arbeiten handeln nicht explizit vom Improvisieren. Gleichwohl enthalten diese Arbeiten sachdienliche Hinweise für eine weitere Auseinandersetzung mit der Thematik oder erweisen sich historisch als Transformationen von Improvisationskonzepten, die sich für gegenwärtige Schreibverfahren als aufschlussreich herausstellen dürften. Das grundsätzliche Problem beim Nachdenken über Improvisationsvorgänge beim Schreiben besteht darin, dass die meisten Stellungnahmen zur Kunst des Improvisierens sowie auch die oben erwähnte „Forschungsliteratur“ sich nicht oder kaum um den Prozess des Schreibens kümmern. Erfindungsgabe ist also gefragt, wenn es darum gehen soll, bereits bestehende Konzepte des Improvisierens auf ihre mögliche schreibpraktische Dimension zu befragen. Dazu kommt ein Dokumentationsproblem: Improvisationsprozesse entziehen sich grundsätzlich – vor allem aber, wenn man es ausschließlich mit Texten als ihren Ergebnissen zu tun hat – der direkten Beobachtung. Entsprechend bleibt festzuhalten, dass die genannten „Wegmarken“ sich vornehmlich auf Konzepte des Improvisierens beziehen und die Frage nach den konkreten Praktiken immer wieder von neuem zu stellen bleibt.

07. 01. 09 /// S.Z.