Archiv der Kategorie: Verfahren

schimpfen

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Schimpfen bezeichnet einen aggressiven Sprechakt, der sich aus dem Affekt heraus unverhohlen subjektiv und unsachlich gegen ein Objekt, einen Umstand oder eine Person sowie gleichzeitig an einen realen oder imaginären Zuhörer richtet. Der Schimpfende schürt die Diskrepanz, in der er zu dem Umstand, der Person oder der Sache steht. Wird Schimpfen aus dem Bereich des Mündlichen ins Geschriebene übertragen und als Schreibverfahren verstanden, geht es darum, die Dynamik der mündlichen Rede im Schriftlichen nachzuvollziehen bzw. gezielt zu produzieren, wobei sie auch als Motivation für den Schreibprozess selbst aufgefasst und genutzt werden kann. Das Schimpfen kann dabei so gestaltet werden, dass es von einer Figur innerhalb eines Textes oder von einem Erzähler oder einer sonstigen Instanz vollzogen wird – bis hin zum Text selbst, der als schimpfender inszeniert werden kann.

Im Alltagsgebrauch handelt es sich beim Schimpfen um einen verbalen, lauten Vorgang, bekräftigt durch ausgeprägte Mimik (zusammengezogene Augenbrauen) und Gestik (geballte Fäuste). Er schafft einen Freiraum für die Meinung und Emotion des Schimpfenden (sich Luft machen). Die Energie dieser radikalen Vorwärtsbewegung kann zu großer Kreativität führen. Entsprechend oft finden sich in Schimpftiraden Neologismen. Leitend ist dabei oft auch die Lust am Überschreiten von Grenzen, Konventionen und gesellschaftlichen Tabus.

Der informelle Gestus und die Bindung an einen Sprecher bleiben auch für das Schimpfen als Schreibverfahren typisch. Die für das Schimpfen kennzeichnende Dynamik wird erreicht durch dezidierte Abwehr jeglicher Widerrede (wenige Unterbrechungen des Wortflusses), schnelle, wortreiche Assoziationen sowie Variationen ein und derselben Idee, die einen Unterhaltungswert bergen können. Dabei ist die Ausgestaltung im Detail nicht nur vom Schimpfgegenstand, sondern mindestens so sehr von der Akzentuierung durch die Sprecherposition abhängig.

Das poetische Potential des Schimpfens liegt in einem Spannungsverhältnis begründet: dem Selbstverlust des Schimpfenden beim gleichzeitigen Versuch der Selbstbestätigung im Akt. Mit einem Selbstverlust hat man es dann zu tun, wenn sich der Akt des Schimpfens verselb­ständigt: Die Aneinanderreihung von immer neuen Worten führt allmählich dazu, dass das Schimpfen sich nicht nur von den gemeinten Tatsachen (um die es dann letztlich nicht mehr geht), sondern auch von einer Sprecherinstanz löst, die sich noch als Herr der Lage wähnen könnte. Selbstbestätigung wiederum heißt, dass das Schimpfen gleichzeitig ein Akt ist, der zumindest der Intention nach zu einer radikalen Klärung einer Situation – und damit auch des Sprecherstandpunktes – durch eindeutige Beurteilung führen sollte. In dem Maße jedoch, wie die Sprache sich (etwa in einer Schimpftirade) verselbständigt, läuft das Schimpfen auch Gefahr, etwaige Zielsetzungen zu unterlaufen, was wiederum ein gesteigertes Verlangen nach Selbstbestätigung und Abgrenzung gegenüber dem anderen durch das Schimpfen mit sich bringen kann.

In diesem dynamischen Wechselverhältnis liegt auch der oft redundante, aufzählende Charakter des Schimpfens sowie der Steigerungswille des Schimpfenden, sich selbst im Akt zu über­treffen, begründet. Entsprechend sind Übertreibungen, Elative, Ironie und Verabsolutierungen bis hin zur markierten Sprachlosigkeit sehr häufige Stilmittel. Beim Schreiben kann dieses Wechselverhältnis gezielt zum Einsatzpunkt der poetischen Arbeit genommen werden, wobei der Vorteil des Schreibprozesses gegenüber der mündlichen Rede darin zu sehen ist, dass das Schreiben eine gezielte Überarbeitung des Affektes und ein Spiel damit möglich macht.

12. 01. 11 /// Antonia Kalitschke

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S. als lebensbejahender sprachlicher Kraftakt in der Renaissancekultur: François Rabelais, Gargantua und Pantagruel (1552) /// S. als Selbstbeschimpfung: Fjodor Dostojewskji, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) /// Konzeptionelles Schimpfen: Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887) /// S. als Performance: Peter Handke, Publikumsbeschimpfung (1966) /// S. als poetische Produktivkraft: Rolf Dieter Brinkmann, Wörter Sex Schnitt (1973) /// S. als komische Polemik: Thomas Bernhard, Alte Meister (1985) /// S. als Pauschalisierung und Sprachexperiment: Sibylle Lewitscharoff, Apostoloff (2009)

12. 01. 11 /// A.K.

← Forschungsliteratur →

Michael Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (russ. 1965), Frankfurt am Main 1998 /// Harold Bloom, Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung (amer. 1973), Basel 1995) /// Karin Büchle, „‚Schimpfen ist gesund‘ oder ‚Hunde, die bellen, beissen nicht‘ – Schimpfen in verschiedenen Sprachen und Kulturen“, in: Bern Spillner (Hrsg.), Nachbarsprachen in Europa, Frankfurt am Main 1994, S. 189-192 /// Judith Butler, Hass Spricht. Zur Politik des Performativen (amer. 1997), Berlin 1998 /// Alois Senti, „Vom Fluchen und Schimpfen“, in: Terra plana 1 (1981), S. 41-46 /// Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main 2006

12. 01. 11 /// A.K.

↑ Postskriptum ↑

Schimpfen grenzt sich vom Vorgang des Beschimpfens und des Schimpfens über etwas ab. Wendet sich beim Beschimpfen der Autor, der Text oder die Figur direkt an sein Gegenüber, meist an eine Person, wodurch gleichzeitig eine klar umrissene Kommunikationssituation etabliert wird (charakteristisch ist zudem eine punktgenaue Artikulation in Form eines Schimpfwortes), beinhaltet schimpfen über etwas nicht unbedingt einen in der Schimpfsituation real präsenten Gegner bzw. Angriffspunkt. Schimpfen als solches hingegen beschreibt allein einen negativ stimulierten Akt der Meinungskundgabe, der sich von einem beschimpften Gegenstand auch durchaus lösen kann. Einen Hinweis auf die Konzentration auf das Schimpfen als Vorgang gibt die seltene Verwendung des Substantivs „Schimpf“ (außer in Schimpf und Schande), viel gängiger ist jedoch die „Beschimpfung“.

Die Selbstbeschimpfung ist eine suchende Kreisbewegung. Durch den Selbstverlust im Akt birgt es die Möglichkeit, sich durch den Inhalt (man ist sich das eigene Schimpfobjekt) und die Form einzufangen. Gelänge dies, wäre der Schimpfakt beendet und somit kein Schimpfen mehr.

Liebevolles Schimpfen ist eine ironische Form des Schimpfens und beinhaltet die Möglichkeit der Nichterkennung. Es bedarf eine Form der Kennzeichnung im Schreibprodukt, wenn der Autor eine Eindeutigkeit in seiner Intention beabsichtigt.

Der Leser: Der Akt des Schimpfens kann durch den Leser gewöhnlich schnell identifiziert werden. Möglicherweise provoziert ihn die Radikalität des Schimpfens oder bewegt ihn durch seine Dynamik. Die Distanz des Geschriebenen hält dem Leser jedoch viele Lektürepositionen offen, wie z.B. die amüsierte, vermittelnde, verständnislose.

12. 01. 11 /// A.K.

reduzieren

↓ reduzieren ↓

Als Schreibverfahren heißt reduzieren, in eine Vorlage eingreifen, um diese in einer bestimmten Hinsicht zu verringern. Eine Reduktion kann auf der semantisch-assoziativen, der grammatika­lisch-syntaktischen oder der graphematisch-materiellen Ebene angestrebt werden. Im Prozess selbst kann sie als Herausstellung der wichtigsten inhaltlichen Aussagen, als Befreiung von unnötigem Beiwerk oder als Entschlackung der schriftbildlichen Erscheinungsweise verstanden werden. Dabei kann die Vorlage sowohl ein Fremdtext als auch selbstproduziertes Material sein.

Abhängig von der Art des Eingriffs können folgende Grundverfahren des Reduzierens unter­schieden werden: konstruktives Reduzieren und destruktives Reduzieren. Diese Unterscheidung kann mögliche Tendenzen eines Schreibprozesses benennen, beschreibt jedoch nicht erschöp­fend alle Formen reduzierender Verfahren.

Konstruktives Reduzieren lässt sich auf die Vorgaben des Referenzmaterials ein und respektiert dessen Eigenlogik. Die relevanten Momente, Motive und Aussagen des Materials werden durch den Eingriff möglichst deutlich herausgestellt. Der Eingriff zielt darauf ab, Interpretations­möglichkeiten, die als überflüssig oder irreführend betrachtet werden, auszuschalten. Im Idealfall bleiben alle notwendigen Elemente erhalten. Der Referenztext behält seine Autorität. Die Arbeit ist darauf ausgerichtet, Komplexität zurückzunehmen, um auf diese Weise zu einer Steigerung der Verständlichkeit zu gelangen.

Destruktives Reduzieren respektiert die Eigenlogik der schriftlichen Vorlage nicht. Der vermin­dernde Eingriff in den Korpus des Referenzmaterials erfolgt primär mit der Absicht, einen neuen Text mit einer eigenen Logik herzustellen. Der Referenztext behält seine Autorität nicht. Die Destruktion zielt somit auf den Referenztext, nicht auf den eigenen.

Das poetische Potential des Reduzierens entfaltet sich allerdings vornehmlich dann, wenn konstruktives Reduzieren in destruktives umschlägt und umgekehrt. So kann eine übersteigerte Form von Verständlichkeit eine irritierende, unkontrollierbare Bedeutungsoffenheit erzeugen, während umgekehrt der mutwillige Zugriff auf den Referenztext nicht nur für den neuen Text, sondern auch für die Vorlage zu einer produktiven, weiterführenden (und in diesem Sinne konstruktiven) Aktualisierung führen kann. Entscheidend für die Entfaltung solcher Potentiale im Schreibprozess sind die Lektüreerkenntnisse im Prozess des Schreibens selbst. So ist es wichtig, dass der Schreiber sich selbst immer wieder in die Rolle des Lesers versetzt, und zwar in die Rolle des Lesers von zwei Texten: des gelesenen und des neu geschriebenen. Provozierte Unschärfen als Ergebnisse von Reduktionsprozessen fordern Lektüren heraus, die hoch individualisiert sind.

14. 08. 10 /// Kay Steinke

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R. als Sprachform: Stifter, Der fromme Spruch (1867) /// R. als Entleeren des Schriftbildes: Stéphane Mallarmé, Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (1897) /// R. als stilistische Entschlackung: Ernest Hemingway, Old Man at the Bridge (1938) /// R. als Verdichten und Auslassen: Paul Celan, Sprachgitter (1959) /// R. als Verfahren der Textkürzung: Samuel Beckett, Imagination morte imaginez (1965) /// R. als Verfahren der Verkleinerung: Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1932-1939) /// R. als Imitation und Verfremdung des Stils von Groschenromanen: Elfriede Jelinek, Die Liebhaberinnen (1975) /// R. als Verknappen von Inhalt und Form: Raymond Carver, Will You Please Be Quiet, Please? (1976) /// R. als selbstverstandene Endstufe der Dichtung: Kay Steinke, Die Entschleunigung der guten Nachricht (2010)

14. 08. 10 /// K.S.

← Forschungsliteratur →

Helmut Heißenbüttel, „Reduzierte Sprache. Über einen Text von Gertrude Stein (1955)“, in: Über Literatur, Olten 1966 /// Klaus Ramm, Reduktion als Erzählprinzip bei Kafka, Frankfurt 1971 /// Walter Weiss, „Stifters Reduktion“, in: Johannes Erben und Eugen Turnher (Hrsg.), Germanistische Studien, Innsbruck 1969 /// Gabriele von Malsen-Tilbroch, Repräsentation und Reduktion: Strukturen späthöfischen Erzählens bei Berthold von Holle, München 1973 /// Hartmut Reinhardt, „Das kranke Subjekt: Überlegungen zur monologischen Reduktion bei Thomas Bernhard“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Geissen 1976 /// Karl-Heinz Köhler, Reduktion als Erzählverfahren in Heissenbüttels Textbüchern: Anspruch, theoretische Begründung und erzählerische Leistung von Heissenbüttels Reduktionsformen, Frankfurt 1978 /// Elisabeth Walbert, Prinzipien der Reduktion im Werk Wilhelm Raabes, Hochschulschrift: Bonn, Univ., Diss., 1980 /// Renate Brosch, Short Story. Textsorte und Leseerfahrung, Trier 2007 /// Sandra Berchtel, Die Kunst der Reduktion. Minimalismus in Literatur und Film, Saarbrücken 2008 /// Klaus Schubert, Konstruktion und Reduktion, in: Hans P. Krings und Felix Mayer (Hrsg.), Sprachenvielfalt im Kontext von Fachkommunikation, Übersetzung und Fremdsprachenunterricht, Berlin 2008, S. 209-219

14. 08. 10 /// K.S.

↑ Postskriptum ↑

Reduzieren, wie es hier beschrieben wird, unterscheidet sich vom Verständnis und Gebrauch des Wortes in Bildender Kunst, Architektur, Design und Musik. Dort meint es weniger das reduzierende Eingreifen in eine bestehende Vorlage als vielmehr eine Reduktion der Formen gegenüber bestehender Formkonventionen oder der Natur. In Minimal Art, Minimal Music und Minimal Design, die ihren Ursprung in den USA der 60er Jahre haben, findet sich in den meisten Fällen eine Reduktion auf Grundstrukturen und deren serielle Anordnung. So verstanden rückt das Reduzieren näher an Begriffe wie Verdichten, Minimalisieren, Vereinfachen, Geometrisieren oder Abstrahieren als an Streichen, Redigieren etc., wie in dem oben verfassten Artikel beschrieben.

Beide Formen des Reduzierens ließen sich jedoch zusammendenken, wenn man sie als Konzentration auf das Wesentliche verstehen möchte. So lassen sich einige Skulpturen Constantin Brancusis, auf den sich auch die amerikanischen Minimalisten beziehen, als reduzierende Kommentare zu eigenen oder fremden Werken lesen: Der Kuss (1907) kann als reduzierendes Zitat der gleichnamigen Skulptur von Auguste Rodin von 1886 verstanden werden und die zunehmende Reduktion hin zur Eiform von Schlafende Muse I (1909) über Prometheus (1911), Der erste Schrei (1913), Das Neugeborene (1915) bis zu Der Weltanfang (1920) als reduzierender Kommentar auf das eigene Werk. In beiden Fällen handelt es sich jedoch nicht um ein reduzierendes Eingreifen, wie im Artikel beschrieben, da das jeweilige Referenzwerk weiterhin in seiner Form bestehen bleibt. Diese Tatsache macht jedoch die Reduktion erst sichtbar, anders als bei der Veröffentlichung eines reduzierten Textes, bei dem die Vorstufen nicht mit veröffentlicht werden und über ein reduzierendes Schreibverfahren nur spekuliert werden kann.

14. 08. 10 /// K.S.

sammeln

↓ sammeln ↓

Sammeln meint das wiederholte Zusammentragen verstreuter Elemente, die unter einem Gesichtspunkt vereinbar sind bzw. vereint werden. Um in einer Sammlung zusammengetragen zu werden, müssen die einzelnen Elemente sich in einer Hinsicht gleichen und dennoch voneinander unterscheidbar bleiben. Erst das Kriterium der Differenz macht etwas zu einem relevanten Bestandteil einer Sammlung.

Die Auswahl, was potenziell zur Sammlung gehört und was nicht, nimmt eine Einteilung der Wirklichkeit vor. Das Prinzip, nach dem die Auswahl erfolgt, muss jedoch nicht unbedingt im Voraus artikulierbar sein; es kann erst im Verlauf des Sammelns entstehen oder sich grundsätzlich ändern. Hierfür ist das Moment der Anschauung von Bedeutung: Durch das wiederholte Sichten kann die Sammlung auf den Sammelnden zurückwirken. Mit dem Sichten ist auch das Ordnen der Sammlung verbunden, allerdings können die Ordnungs­prinzipien nur temporäre Gültigkeit beanspruchen, da sich die Sammlung mit jedem hinzugefügten Teil verändert. So entwickelt jede Sammlung eine unberechenbare Eigendynamik und bleibt stets fragil. Wenn das vereinende Prinzip nicht mehr die gesamte Sammlung verbinden kann und an Gültigkeit verliert, droht sie auseinanderzufallen. Deshalb gehört das stän­dige Bemühen, die bereits bestehende Sammlung zusammenzuhalten, ebenso zum Sammelprozess wie das Sammeln selbst.

Eine Sammlung ist potenziell unabschließbar, da sie unendlich erweitert werden kann. Mit der Entscheidung für eine Publikation oder Ausstellung wird eine Zäsur im Sammelprozess gesetzt, die von einer zuvor nur temporären Ordnung Gültigkeit einfordert. Das Sammeln kann jedoch über den Zeitpunkt der Publikation hinweg fortgesetzt werden, indem das bereits gesammelte Material in eine neue Sammlung mit veränderten und sich ändernden Prinzipien eingeht.

Für den Schreibprozess sind zwei grundsätzliche Formen des Sammelns relevant: dastransitorische Sammeln und das konservierende Sammeln, wobei Mischformen beider Arten denkbar sind. Das transitorische Sammeln bildet im Schreibprozess nur ein Durchgangs­stadium. Gesammelt werden Dokumente und Gegenstände, die nicht in ihrem Sosein von Bedeutung sind, sondern als Inspiration oder Materialgrundlage für ein späteres Schreiben dienen. Das konservierende Sammeln hingegen will die einzelnen Elemente in ihrem Sosein bewahren, mit der Überzeugung, dass sich in das Wie ihrer Gestaltung die Orte und Zeiten eingeschrieben haben, aus denen sie ursprünglich stammen. So werden die Gegenstände zu Bedeutungs­trägern, die auf etwas verweisen, das nicht (mehr) da ist: Entlegene Orte und vergangene Zeiten werden durch die Sammlung an einem Ort zusammengebracht.

Durch das Zusammenkommen wird ein In-Bezug-Setzen der Einzelteile oder eine vergleichende Perspektive möglich. Die dennoch herrschende Unverbundenheit der einzelnen Bestandteile einer Sammlung bildet darüber hinaus ein sich ständig wandelndes Netzwerk an möglichen Bedeutungen.

18. 06. 10 /// Johanna Stapelfeldt

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S. als Bewahren oraler Kulturtechniken: Johann Gottfried Herder, Volkslieder. Nebst untermischten anderen Stücken (1778-1779); Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von Achim von Armin und Clemens Brentano (1806-1808); Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen (1812-1815); Peter Rühmkopf, Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund (1967) /// Der Sammler als literarische Figur: Honoré de Balzac, Vetter Pons (1847); Konstantin Waginow, Bambocciade (1931) /// S. als kulturwissenschaftliche Methode: Aby Warburg, Der Bilderatlas MNEMOSYNE (entst. 1924-1929) /// S. als Werkprinzip: Walter Benjamin, Das Passagen-Werk (insb. H [Der Sammler]) (entst. 1927-1940) /// S. als Erinnerungsarbeit: Walter Kempowski, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch (1993-2005)

18. 06. 10 /// J.S.

← Forschungsliteratur →

Jean Baudrillard, Die Sammlung, in: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a. M. 1991, S. 110-136 /// Wolfgang Schlüter, Walter Benjamin. Der Sammler & das geschlossene Kästchen, Darmstadt 1993 /// Werner Muensterberger, Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, Frankfurt a. M. 1999 /// Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt a. M. 2002 /// Karl Heinz Bittel, Beschreibung eines Kampfes. Über die Entstehung von Walter Kempowskis ‚Echolot’, in: Carla Ann Damiano, Jörg Drews und Doris Plöschberger (Hrsg.),„Was das nun wieder soll?“ Von ‚Im Block’ bis ‚Letzte Grüße’. Zu Leben und Werk Walter Kempowskis, Göttingen 2005, S. 137-149 /// Ilja Kabakow und Boris Groys, Müll, in: dies., Die Kunst des Fliehens. Dialoge über Angst, das heilige Weiß und den sowjetischen Müll, München 2007, S. 105-116 /// Boris Groys, Logik der Sammlung, München 2009

18. 06. 10 /// J.S.

↑ Postskriptum ↑

In der vorgenommenen Beschreibung des Sammelns als poetischem Verfahren bleibt die von Manfred Sommer als ökonomisch bezeichnete Form des Sammelns unberücksichtigt. Im Gegensatz zum ästhetischen Sammeln, wenn man sich an Sommers Terminologie hält, ist beim ökonomischen Sammeln das Kriterium der Differenz irrelevant. Da es in dieser Form nur um die Anhäufung gleicher Dinge und deren Verwertung geht, so Sommer, steht nicht die Ästhetik des Bewahrens im Vordergrund, sondern die Ökonomie des Verschwindens (Sommer 2002).

Ich bin allerdings der Ansicht, dass alle für den Schreibprozess relevanten Formen des Sammelns auf das ästhetische Sammeln als Grundform zurückgehen, auch wenn in dem oben verfassten Artikel eine Trennung zwischen transitorischem und konservierendem Sammeln forciert wurde. Auch für das von mir benannte transitorische Sammeln ist einerseits das Kriterium der Differenz von Bedeutung, andererseits ist auch hier in den meisten Fällen eine bewahrende Absicht zu unterstellen. Der Unterschied zum konservierenden Sammeln ist dann eher in der Form des Bewahrens zu suchen. Denn während die Sammlung als Materialgrundlage für einen späteren Schreibprozess nicht in der jeweils geschlossenen Form der einzelnen Elemente wirksam wird, geht es beim konservierenden Sammeln, wie bereits erwähnt, darum die Dinge in ihrem Sosein zu belassen.

Die etwas umständlich wirkende Bezeichnung „Elemente“ versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass nicht nur Gegenstände Bestandteil einer Sammlung werden können, sondern auch Bilder und Texte, deren Bedeutung nicht auf einen materiellen Träger zurückzuführen ist, sondern auf ihren „Inhalt“. Dieser Umstand ist vor allem für die mediale Übertragung des Verfahrens wichtig. Denn Elemente an einem Ort zusammenzutragen kann auch heißen, durch das Internet zu surfen, Sätze zu kopieren und in einem Order oder einer Word-Datei zusammenzustellen.

18. 06. 10 /// J.S.

insistieren

↓ insistieren ↓

Insistieren bezeichnet das Bestehen auf etwas. Die Valenz des Verbs setzt ein insistierendes Subjekt und ein Objekt voraus. Jemand besteht auf einer sprachlich gefassten Meinung, Feststellung oder Forderung. Subjekt des Insistierens kann sowohl der Autor, der Text oder eine Figur sein. Die Behauptung richtet sich an ein Gegenüber, selbst wenn dieses nur implizit vorhanden sein sollte.

Insistieren und Verweigern bilden komplementäre Verhaltensweisen: Das Insistieren potenziert sich in dem Maß wie sich das Gegenüber verweigert und umgekehrt. Auf Möglichkeiten wie Verhandlung und Kompromissfindung wird in diesem Fall verzichtet. Die Notwendigkeit zu insistieren lässt nicht selten auf ein Ungleichgewicht im Machtverhältnis der Konfliktparteien schließen. Eine reflektierende Position, die wie ein Vermittler Ausgesagtes und Anlass prüft, bleibt dann dem Leser vorbehalten.

Insistieren ist ein Akt, der primär im Mündlichen stattfindet. Wird insistierend geschrieben, handelt es sich oft um eine Simulation mündlicher Rede. Dies zeigt sich unter anderem an Idiom, rhetorischen Volten, effektorientierter Interpunktion oder Hervorhebung durch Sperrdruck und Kursivsetzung. Ferner sind Aspekte wie Wiederholung und der gehäufte Gebrauch des gleichen Stilmittels (z. B. Ellipse) von Bedeutung.

Als Schreibverfahren bewirkt Insistieren eine emotionale Aufladung der dargestellten Situation. Über den Verlauf des Konflikts entscheidet der Gestus, mit dem insistiert wird. Verschiedene Formen sind denkbar: Wird eine Aussage vielfach umformuliert oder wortgetreu wiederholt? Je eher dabei redundant verfahren wird, desto stärker verringert sich das Tempo der Informationsvergabe. Jedoch kann auch ein gegenteiliger Effekt zu Stande kommen. Sprache entwickelt durch Insistieren eine eigene Dynamik. Wir können uns, ein Text kann sich sprichwörtlich ‚in Rage reden‘. So kann Insistieren die Textdynamik be- oder entschleunigen. Ferner bestimmen Ernsthaftigkeit, ironische Brechung und Humor den Gestus. Insistieren entwickelt ein Überzeugungspotential, das mit Hilfe weniger Argumente nahezu unhaltbare Positionen verteidigen kann. Bei politischer Propaganda können abwegige Aussagen durch Insistieren salonfähig werden, umgekehrt können sinnvolle Aussagen durch Insistieren mit der Zeit immer absurdere Züge annehmen.

Sein poetisches Potential entfaltet das Verfahren dort, wo der verhandelte Gegenstand an Wichtigkeit verliert und die Sprache selbst Raum gewinnt. Hier verschiebt sich der Fokus von einer Bezugnahme auf außersprachliche Wirklichkeit hin zu einem primär sprachlichen Akt. Zudem tritt hierbei die affektive Dimension von Sprache in den Vordergrund. Insistieren ist eine Möglichkeit, schreibend Affekte (wie Zorn, Lust, Intensität etc.) performativ zur Darstellung zu bringen, ohne dass diese Affekte zum Thema werden müssen. Auch durch Akzentverschiebungen dieser Art kann sich Insistieren als poetisches Verfahren auszeichnen.

04. 05. 10 /// Florian Balle

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I., Verweigern und Eigendynamik: Thomas Bernhard, Gehen (1971) /// argumentatives I.: Charles Dickens, Hard Times (1853) /// I. als Ausdruck der Liebe: Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther (1774) /// I. als Vorwurf: Franz Kafka, Das Urteil (1913) /// I. als Überzeugung: Jazz-Standart Baby, it’s cold outside zum Beispiel von Ray Charles und Betty Carter (1961) /// I. als Identitätsbildung: Max Frisch, Stiller (1954) /// insistierendes Durchspielen eines Themas: Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit (1952); ders., Sansibar oder der letzte Grund (1957); ders.,Winterspelt (1974) /// I. einer Zuschreibung: Eugène Ionesco, La cantatrice chauve (1950)

04. 05. 10 /// F.B.

← Forschungsliteratur →

Wilhelm Franke, Insistieren. Eine linguistische Analyse, Göppingen 1983 /// Michael Schecker, Insistieren als Typus strategischer Kommunikation, in: Franz Hundsnurscher, Edda Wiegand (Hrsg.), Dialoganalyse, Tübingen 1986 /// Ria Endres, Am Ende angekommen. Dargestellt am wahnhaften Dunkel der Männerporträts des Thomas Bernhard, Frankfurt am Main 1980 /// Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape, Rhetorik und Stilistik, Berlin 2010

04. 05. 10 /// F.B.

↑ Postskriptum ↑

1. … Wiederholung und Interpunktion sind dabei besonders zu beachten. Zu beachten!

2. In dem Roman Gehen von Thomas Bernhard hat das Insistieren einen großen Stellenwert. Karrer besteht im Rustenschacherschen Laden darauf, dass es sich bei den angebotenen Hosenstoffen umtschechoslowakische Ausschussware handelt, während Rustenschacher sie als erstklassige englische Stoffe insistierend verteidigt. Letztlich ist es diese Konstellation, die das Verrücktwerden Karrers auslöst, bis er nach Steinhof gebracht wird.

3. Doch auch Oehlers Bericht darüber, dem er einen nahezu konturlosen Erzähler gibt, ist interessant: Er kommt wiederholt darauf zu sprechen, dass Karrer nach Steinhof hinauf gekommen ist und wird sich im Verlauf immer sicherer, dass Karrer nie wieder entlassen wird. Obwohl die Voraussetzungen sich nicht geändert haben, scheint ihm sein gedankliches Insistieren diese Einsicht immer stärker zu suggerieren.

4. Im Roman Stiller von Max Frisch entfaltet sich durch Insistieren die Identitätsproblematik. Wir werden eingeführt von einer Figur, die behauptet, nicht der zu sein, für den sie von allen gehalten wird: Ich bin nicht Stiller! Meinen wir im Folgenden, es tatsächlich mit Stiller zu tun zu haben, so hat sich die Figur durch ihr Insistieren bereits eine neue Identität geschaffen. Stiller ist eine Person, von der die Figur viel weiß, die sie jedoch distanziert betrachten kann – hier geht es um die Frage, inwiefern individuelle Entscheidungen den Prozess der Identitätsbildung bestimmen.

5. Bei Ionescos Anti-Stück La cantatrice chauve (Die kahle Sängerin) wird die Zuschreibung englisch so oft benutzt, dass es den Aussagewert zunächst steigert und dann inflationär hintertreibt. Das Adjektiv verliert seine Verweisfunktion und wird für den Leser zum Running Gag oder zu einem rein phonetischen Rauschen.

04. 05. 10 /// F.B.

visualisieren

↓ visualisieren ↓

Visualisieren meint die Verwendung von Schrift in Hinblick auf eine Bildwirkung. Schrift dient als Zeichenträger für Sprache und besitzt zugleich eine Eigenrealität. Da Sprachhandlungen grundsätzlich in einem Nacheinander stattfinden, Schrift jedoch räumlich ist, entsteht ein Widerspruch zwischen der simultan wahrnehmbaren Schrift und der in zeitlicher Abfolge zu deutenden Sprache, für die sie das Medium ist. Visualisieren geht bewusst mit diesem Doppelcharakter von Schrift als Materiellem und Medium um. Das Verfahren zielt auf die Wahrnehmung von Schrift als Eigenrealität, entgegen dem bloßen Lesen, d. h. dem Sehen und Deuten einzelner Zeichen in einem Nacheinander. Dabei wird die Räumlichkeit von Schrift als Möglichkeit genutzt, um bildspezifische Effekte wie z. B. Simultanität und Evidenz zu erzielen. Visualisieren kann durch Individualisieren und ungewöhnliches Setzen von Schrift oder das Spielen mit den Schriftzeichen stattfinden.

Individualisieren von Schrift meint das Ausgestalten von Schriftzeichen über ihre visuelle Zeichenform hinaus. Entgegen ihrem Grundcharakteristikum als allgemeines Zeichen, erhält sie durch Gestaltung Einzigartigkeit. Handschrift bietet sich dabei an, da diese entgegen gedruckter Schrift visuell einmalig ist oder zumindest den Eindruck von Einmaligkeit erweckt. Schwierigkeiten bei der Lesbarkeit können diesen Effekt verstärken. Auch durch die Brechung der funktionalen Anordnung von Schriftzeichen wird ein anderes Sehen von Schrift als beim Lesen provoziert. Dadurch macht die Schrift die Spannung zwischen dem Zweck der Schrift als Zeichen und der Möglichkeit von Schrift, Bild zu sein, anschaulich. Der Betrachter nimmt die Schrift in dem Wissen, dass es sich um ein Medium für Sprache handelt, in ihrer eigenen Materialität, also Sichtbarkeit, wahr.

Eine weitere Möglichkeit des Visualisierens sind Spiele mit Buchstaben und Silben wie z. B. Anagramme und Palindrome. Hier findet entgegen dem üblichen Verhältnis von Schrift als Zeichen für Sprache eine Schaffung sprachlichen Sinns durch den Umgang mit Schrift statt. Spielen mit den Schriftzeichen selbst unter Berücksichtigung syntaktischer Regeln wie z. B. Anagramme oder Palindrome erzeugt einen poetischen Sinn. Im Spiel wird das übliche Abhängigkeitsverhältnis von Schrift als Zeichenträger der Sprache umgekehrt.

Visualisieren kann auf die Vermeidung von sprachlichem Sinn zielen. Indem der Fokus auf die Materialität von Sprache gerichtet wird, soll ihre Bedeutung als sprachliches Zeichen zufällig und somit unsinnig erscheinen. Wichtig wird dann die Eigendynamik sprachlicher Sinnproduktion.

Visualisieren entledigt die Schrift nicht ihrer Funktion als Sprachzeichen. Beide Sinnebenen, die der Schrift als Zeichen und die der Schrift als Bild, stehen in einem Widerspruch zueinander. Visualisieren erzeugt dadurch ein Irritationsmoment beim Betrachter. Gewohnte Sehtechniken sind nicht mehr anwendbar. Neue Formen des Sehens, jenseits der identifizierenden Anschauung, werden dann notwendig.

03. 06. 10 /// Janna Schielke

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V. durch ungewöhnliches Setzen: Theokrit, Syrinx (ca. 250 v. Chr.); Georg Weber, Sieben Theile Wohlriechender Lebensfrüchte (1649); Catarina Regina v. Greiffenberg, Über den gekreuzigten Jesus (ca. 1690); Laurence Sterne, Die Bewegung von Trims Stock (1767); Stéphane Mallarmé, Un Coup de Dés (1897); Jörg Albrecht, Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif (2008) /// V. durch Gestalten der Schriftzeichen: Book of Lindisfarne (715-721) /// V. als Vermeidung von Sinn: Filippo Tommaso Marinetti, Zang Tumb Tumb (1914); Richard Huelsenbeck, Marcel Janko, Tristan Tzara, L’Amiral cherche une maison à louer (1916) /// V. durch Spielen mit Schriftzeichen: Ernst Jandl, Niagarafälle (1961); Eugen Gomringer, Wind (1969)

03. 06. 10 /// J.S.

← Forschungsliteratur →

Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994 /// Ludwig D. Morenz, Bild-Buchstaben und symbolische Zeichen, Freiburg und Göttingen 2004 /// Willibald Sauerländer, Initialen – Ein Versuch über das verwirrte Verhältnis von Schrift und Bild im Mittelalter, Wolfenbüttel 1994 /// Jeremy Adler und Ulrich Ernst, Text als Figur – Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Wolfenbüttel 1987 /// Davide Giuriato, Martin Stingelin, Sandro Zanetti (Hrsg.), „Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: Von Eisen“. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München 2008 /// Erika Greber, Konrad Ehlich, Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Materialität und Medialität von Schrift, Bielefeld 2002 /// Peter Koch, Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift, Medien, Kognition – Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen 1997 /// Sonja Neef, Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Berlin 2008 /// Davide Giuriato, Stephan Kammer, Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Frankfurt am Main 2006 /// Christian Kiening, Martina Stercken (Hrsg.), SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008

03. 06. 10 /// J.S.

exemplifizieren

↓ exemplifizieren ↓

Exemplifizieren meint, einen allgemeinen Sachverhalt punktuell zu veranschaulichen oder zu belegen. Das Exemplifizieren geschieht mit einem Exempel, also einem Beispiel. In seiner Wortbedeutung ist das Exempel das als Muster Herausgegriffene, in seiner Funktion als Muster erschöpft es sich jedoch nie. Denn ein Beispiel verweist nicht zwangsläufig auf eine absolute Folie, belegt diese oder geht von ihr aus. Die Wirkungsweise des Exemplifizierens als poetischem Verfahren hängt deshalb nicht allein von einer Gewichtung der Repräsentanz für einen bestimmten Kontext ab. Entscheidend ist die jeweilige Verweisstruktur, die zwischen beispielhaftem Teil und Ganzem, Aspekt und Kontext oder dem Besonderen und dem Allgemeinen – sowie darüber hinaus – auf verschiedene Weise möglich ist. Dabei spielen in Exemplifikationsprozessen das Bemühen um Veranschaulichung und die implizite oder explizite Orientierung an Werten und Wertordnungen stets eine wichtige Rolle.

Zwar muss ein Kontext gegeben sein, um von ihm ausgehend zu einem Beispiel gelangen zu können, das ihn wiederum zu veranschaulichen vermag. Der Bezugskontext muss im Text jedoch nicht explizit klargelegt sein, zudem kann er auch nur scheinbar vorhanden sein oder hinter dem Beispiel zum bloßen Subtext werden. Gleichzeitig verändert sich jeder Bezugskontext durch den Prozess des Exemplifizierens und wird somit durch das Beispiel selbst geprägt. Exemplifikationsprozesse als Veranschaulichungsprozesse können ihren Einsatz in der Funktionsweise rhetorischer Figuren nehmen (bspw. Metapher, Metonymie, Personifikation) oder direkter aus der Entscheidung für bestimmte Stoffe (bspw. historisches, biographisches, theoretisches Material) entwickelt werden.

Wer exemplifiziert, veranschaulicht jedoch nicht nur, er misst dem Beispiel auch eine normative Qualität zu, da das Beispiel einen Richtwert für das von ihm zu Verdeutlichende bildet. Dabei kann das zu Verdeutlichende selbst normativen Charakter haben, etwa im Falle von dramaturgischen Regeln. Die normative Qualität eines Beispiels muss jedoch keineswegs einem bloß affirmativen Konzept verpflichtet sein, sondern kann auch eine ironische oder polemische Färbung erhalten. Hierbei lässt sich das Verfahren am ehesten als Option verstehen, sich von einem musterhaften Charakter abzukoppeln.

Beide Aspekte, die sich in ihrer Anwendung freilich nicht ausschließen, verdeutlichen, dass Exemplifizieren nicht lediglich die Funktion des Verdeutlichens hat. Zwar macht die Dynamik des Verfahrens stets einen solchen Anschein, aber eben im Spielraum dieses Anscheins liegt das poetische Potential des Exemplifizierens. Denn während des Schreibprozesses kann auf einen Kontext oder eine formale Norm angespielt werden, der oder die für den Text selbst nicht bindend ist und im Text auch nicht explizit zu werden braucht. Diese nur als Subtext zu Grunde liegende Textebene ist jedoch stetig wirksam und markiert das durchgreifende poetische Potential des Verfahrens, in dem sie stets unidentisch mit dem Text selbst bleibt, spekulativ und allenfalls erahnbar.

05. 03. 10 /// Sebastian Polmans

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E. als Paraphrase: Barbi Marković, Ausgehen (2006) /// Beispiele als Sprachspiele: Ludwig Wittgenstein, „Zettel“, in: Über Gewißheit (1969) /// E. im Umfeld eines konkreten Gegenstandes: Sarah Emily Miano, Encyclopaedia of Snow (2002) /// E. im biographischen Kontext: Ralf Rothmann, Junges Licht (2004) /// E. eines historischen Ereignisses mittels verschiedener Sprachperformanzen: Norbert Gstrein, O2 (1993) /// E. als Gesellschaftsanalyse im realistischen Roman: Peter Stamm, Sieben Jahre (2009) /// E. als semiologisches Lektüremodell: Roland Barthes, Mythen des Alltags (1957) /// Poetologischer Versuch mittels E.s das eigene Schreiben zu beschreiben: Philippe Jaccottet, Der Spaziergang unter den Bäumen (1981)

05. 03. 10 /// S.P.

← Forschungsliteratur →

Stefanie Marx, Beispiele des Beispiellosen. Heinrich von Kleists Erzählungen, Würzburg 1994 /// Jens Ruchatz, Stefan Willer und Nicolas Pethes (Hrsg.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007 /// Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Unmöglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003 /// Online-Projekt der Ruhruniversität Bochum, Archiv des Beispiels. Eine Beispieldatenbankhttp://beispiel.germanistik.rub.de /// Wilhelm Büthe (Hrsg.), Das exemplarische Verfahren. Beiträge zur Didaktik der Gegenwart, Darmstadt 1972 /// Bazon Brock, „Zur Geschichte des Bilderkrieges um das Realismus-Problem“, in: Rolf Sachse (Hrsg.), Bildersturm und stramme Haltung: Texte 1968 bis 1996, Dresden 2002, S. 22-70 /// Roland Barthes, S/Z, Frankfurt am Main 2007

30. 05. 10 /// S.P.

↑ Postskriptum ↑

Besonders produktiv für das poetische Verfahren des Exemplifizierens ist der Charakter der Unschärfe, der es möglich macht, das Spannungsverhältnis zwischen Teil und Ganzem aufrechtzuerhalten, ohne es unbedingt thematisieren zu müssen – was überdies meist nur in solchen Texten geschieht, die ihre zugrunde liegenden Gegenstände in abstrakten Begriffen umkreisen, um hieraus wiederum mittels induktiver Erkenntnisprozesse gleichsam einen Beleg für die eigenen Ansätze zu entwickeln (wie etwa in kollektivistischen Schreibszenen des französischen Surrealismus). Das Verfahren offenbart hier seine ihm impliziten Anlagen zur Provokation ironischer Potentiale. Denn wenn das zu exemplifizierende Allgemeine hinter einem einzelnen Beispiel im Text gar nicht vorhanden ist (wie etwa das Gesetz in Franz Kafkas Vor dem Gesetz), ist auch der Einzelfall selbst nicht gesichert. Er schreibt sich ein in ein paradoxes Verhältnis zum Allgemeinen, das als lediglich scheinbare Möglichkeit auf Peripherien des Textes verweist, ohne dass sich diese zu erkennen geben. Mit diesem Ansatz zeigt sich womöglich eine der stärksten poetischen Qualitäten dieses Verfahrens, die in ihrer Anwendung das Schreiben grundlegend motivieren (wenn etwa Samuel Beckett seinen eigenen Schreibanlass folgendermaßen erklärt: „I wouldn’t have had any reason to write my novels if I could have expressed their subject in philosophical terms.“ Gabriel D’Aubarède, Interview „En attendant Beckett“. In: Lawrence Graver und Raymond Federman (Hrsg.), Samuel Beckett. The Critical Heritage, London – Henley – Boston 1979, S. 215f).

30. 05. 10 /// S.P.

abbrechen

↓ abbrechen ↓

Beim Abbrechen kommt der Schreibprozess zum Erliegen. Er wird allerdings weder unterbrochen, noch beendet oder abgeschlossen. Abbrechen bezeichnet allein das Ende einer Textarbeit, vor deren Fertigstellung im eigentlichen Sinne. Dabei geht es explizit um den Moment des Abbruchs, für den Schreibprozess insgesamt ist damit kein Urteil gefällt. Dieser kann fortgesetzt werden – mit dem abgebrochenen oder einem anderen Text. Dann entpuppt sich die Zeit nach dem Abbruch als Unterbrechung und das Schreiben als ein an Phasen gebundener Prozess, der durch Abbrüche rhythmisiert wird.tuell motivierte Eindrücke schreibend festzuhalten, zu variieren und schließlich in eine syntaktische Struktur zu überführen.

Das Abbrechen kann durch äußere, pragmatische Faktoren bedingt sein. Ebenso kann die Ursache im Schreibprozess selbst liegen. In diesem Fall treten bei der Arbeit am Text Probleme auf, für die es im Moment keine Lösung zu geben scheint. Es bleibt die Befreiung vom Text, das Abbrechen des Schreibens. Dadurch stellt sich eine Distanz zum Text ein, die produktiv oder auch unproduktiv sein kann, in jedem Fall aber anderen poetischen Verfahren den Raum öffnet.

Die Distanz, die durch das Abbrechen hergestellt wird, und bereits in Momenten des Zögerns und Nachdenkens einsetzen kann, bildet im Schreibprozess den Gegenpol zum kontinuierlichen Weiterschreiben. Unbedingt ist das Schreiben als Prozess auch auf Phasen des Nicht-Schreibens angewiesen. So gesehen, wird das Schreiben immer nur unterbrochenangehalten oder aufgeschoben. Dem Abbrechen kommt dabei als Spannungsmoment zwischen dem Schreiben und dem Nicht-Schreiben eine besondere Dynamik zu, da es nach beiden Seiten offen ist.

Gerade die Arbeit an längeren Texten ist nur denkbar in Phasen, das wiederholte Abbrechen des Schreibprozesses somit notwendig. Dieses Abbrechen als grundlegende Bedingung des Schreibens kann dem ästhetischen Konzept eines Schreibvorhabens untergeordnet werden. Dem gegenüber stehen Schreibverfahren, die es darauf anlegen, die Gemachtheit des zu schreibenden Textes selbst – samt den Abbrüchen im Zuge seiner Entstehung – zur Darstellung zu bringen. Hier kann Profit daraus geschlagen werden, dass das Abbrechen Unfertiges zum Vorschein bringt.

Das Abbrechen kann jedoch auch den Schlusspunkt eines Schreibprozesses markieren, ohne dass damit auf ein endgültiges Ende des Textes hingewiesen wird. Im Gegenteil, gerade der wohl augenscheinlichste Moment des Abbrechens, nämlich sein vermeintlicher Schluss, verdeutlicht das poetische Potential des Verfahrens: Jedem Abbrechen eigen bleibt die Möglichkeit des Fortschreibens.

27. 05. 10 /// Martin Bruch

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A., das die Fertigstellung eines Schreibprojektes um Jahrzehnte hinauszögert: Johann Wolfgang von Goethe, Faust (vom Urfaust (Beginn der Arbeit um 1770) bis zu Faust II (Veröffentlichung 1832)); Ludwig Hohl, Bergfahrt (Beginn der Arbeit 1926, Veröffentlichung 1975) /// A., in dessen Folge ein Schreibprojekt unvollendet zurückbleibt: Georg Büchner, Woyzeck (1879); Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Erste Teilbände erschienen ab 1930); Franz Kafka, Der Process (1925), Das Schloss (1926), Der Verschollene (1926); Walter Benjamin, Das Passagen-Werk (1983) /// Psychologisch oder sonstwie motiviertes A. des Schreibens bei Arthur Rimbaud (1875), Robert Walser (1933) und Friedrich Nietzsche (1889) /// A. als literarisches Thema, als vorgeführte Verweigerungshaltung: Herman Melville, Bartleby der Schreiber (1853); Jean-Philippe Toussaint, Das Badezimmer (1985) /// A. als eine Form des Verschweigens bei Samuel Beckett (u.a. in Warten auf Godot (1952), Endspiel (1956)), als eine Form des Verstummens bei Wolfgang Koeppen (nach den Romanen der Trilogie des Scheiterns in den 1950er Jahren), als eine Form des Verschwindens bei Ilse Aichinger (als beständiges Motiv in Aichingers Werk, insb. erwähnt sei das 2001 in der Tageszeitung Der Standard veröffentlichte Journal des Verschwindens) /// A. der Romanform in der jüngsten Gegenwartliteratur (es bleiben Erzählungen, die eng an ein Themen- und Motivkreis gebunden sind): Judith Hermann, Alice (2009); Bernhard Strobel, Nichts, nichts (2010)

27. 05. 10 /// M.B.

← Forschungsliteratur →

Claudia Brors, Anspruch und Abbruch – Untersuchungen zu Heinrich von Kleists Ästhetik des Rätselhaften, Würzburg 2002 /// Peter Burke, Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität, Berlin 1994 /// Karin Gerig, Fragmentarität – Identität und Textualität bei Margaret Atwood, Iris Murdoch und Doris Lessing, Mannheim 2000 /// Ulrich Horstmann, Die Aufgabe der Literatur oder Wie Schriftsteller lernten, das Verstummen zu überleben, Frankfurt am Main 2009 /// Mehr nicht erschienen. Ein Verzeichnis unvollendet gebliebener Druckwerke. Auf Grund des von Moritz Grolig gesammelten Materials bearbeitet und ergänzt von Michael O. Krieg, Bad Bocklet 1954-1958, (2 Bände) /// Joachim Strelis, Die verschwiegene Dichtung: Reden, Schweigen, Verstummen im Werk Robert Walsers, Frankfurt am Main 1991 /// Hans Mayer, „Sprechen und Verstummen der Dichter“, in: Ders., Das Geschehen und das Schweigen: Aspekte der Literatur, Frankfurt am Main 1969, S. 11-34 /// Mirko F. Schmidt, Jean-Philippe Toussaint, Erzählen und Verschweigen, Paderborn 2001

27. 05. 10 /// M.B.

dekonstruieren

↓ dekonstruieren ↓

Einen Text zu dekonstruieren bedeutet, dessen Konstruiertheit und Rhetorizität schreibend aufzudecken und vorzuführen. Dekonstruieren ist sowohl ein Lektüre- als auch ein Schreibverfahren, das sich stets auf einen bereits bestehenden Text bezieht. Dabei ist es keineswegs als bloße Negation des zu dekonstruierenden Gegenstandes zu begreifen, vielmehr ist es eine Verbindung aus destruierendem und konstruierendem Schreiben, das sich gleichzeitig affirmativ und kritisch dem Gelesenen gegenüberstellt.

Das dekonstruierende Schreiben greift deshalb auf den Begriffsapparat des gelesenen Textes zurück anstatt diesen zu ersetzen. Allerdings werden die Begriffe so vorgeführt, dass ihre Geschichte und Etablierungsweisen sichtbar werden; die Spuren anderer Texte, die in dem gelesenen Text verborgen sind, werden aufgedeckt.

Einen Text zu dekonstruieren bedeutet demnach, diesen noch einmal zu schreiben, jedoch ohne seine Widersprüche, Kontexte und strategischen Tendenzen zu verbergen. Wie sich das Verfahren allerdings im Detail gestaltet, kann sich ausschließlich am konkreten Gegenstand entscheiden. Als übergreifende Verfahrensmerkmale ließen sich jedoch nennen: (1) das Aufdecken bzw. Invertieren der Hierarchie von Begriffspaaren, (2) das Sichtbarmachen eines gewaltsamen Ausschlusses von Nichtgesagtem z.B. durch die Fokussierung auf supplementäre Textelemente wie Fußnoten oder Texte in Klammern, die als Schwellenphänomene möglicherweise Hinweise auf das Ausgeschlossene geben, (3) das Auflösen der rhetorisch konstruierten Identität von Positionen, indem widersprüchliche Elemente in der Argumentation hervorgehoben werden.

Das dekonstruierende Lesen bzw. Schreiben sieht in jedem Sprechen und Schreiben eine Machtausübung, die es aufzudecken gilt; damit versteht sich das Dekonstruieren durchaus als politische Praxis, die in bestehende Machtverhältnisse interveniert und diese destabilisiert ohne dabei unbedingt eine neue Position zu entwerfen. Statt eine erneute Normierung vorzunehmen, wird die Andersheit aufgewertet, das Randständige in den Mittelpunkt gerückt.

Das dekonstruierende Schreiben kann nicht zu einem abschließenden Ergebnis kommen, da es einerseits niemals alle zu dekonstruierenden Elemente eines Textes berücksichtigen kann und sich andererseits selbst zum potentiellen Gegenstand zukünftiger Dekonstruktion macht. Dahinter steht die Vorstellung, dass jeder Text das Potential birgt, sich selbst zu dekonstruieren. Dekonstruieren als aktive Tätigkeit meint lediglich, dieses dekonstruktive Potenzial ans Licht zu bringen.

Dazu braucht es zwar eine grundsätzliche Affirmation des Textes in seinem Sosein, allerdings wird eine Bewertung bzw. ein abschließendes Urteil derart suspendiert, dass die Provokation von eigenverantwortlicher Kritik in der Lektüre ermöglicht wird. Das dekonstruierende Schreiben kann damit zu einer Eröffnung von zuvor unabsehbaren Lektüremöglichkeiten eines schreibend gelesenen Textes werden.

30. 03. 10 /// Johanna Stapelfeldt

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D. als methodische Verschränkung von Konstruktion und Destruktion: Martin Heidegger, Sein und Zeit (Kap. 6) (1927) /// D. als Haltung: Jacques Derrida, Grammatologie (1967); ders., Randgänge der Philosophie (1972) /// D. als Abgrenzung von Vorläuferfiguren: Harold Bloom, Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung (1973) /// D. als literaturwissenschaftliche Methode: Paul de Man, Allegorien des Lesens (1979) /// D. und Psychoanalyse: Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache (1985) /// D. und Intertextualität: Michail Bachtin, Das Problem des Textes (1986) /// D. in den Gender Studies: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (1990) /// D. als Lektüremodus: Werner Hamacher, Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan (1998)

30. 03. 10 /// J.S.

← Forschungsliteratur →

Georg W. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002 /// Peter Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 2007 /// Andrea Kern, Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt a.M. 2002 /// Dominik Portune und Peter Zeillinger (Hrsg.), Nach Derrida. Dekonstruktion in zeitgenössischen Diskursen, Wien 2006 /// Thomas Rösch, Kunst und Dekonstruktion. Serielle Ästhetik in den Texten von Jacques Derrida, Wien 2008 /// Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek 1999 /// Chantal Mouffe (Hrsg.), Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien 1999 /// Peter Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Stuttgart 1994 /// Bettina Menke, Dekonstruktion – Lektüre: Derrida literaturtheoretisch, in: Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 235-258

30. 03. 10 /// J.S.

↑ Postskriptum ↑

Bei der versuchten Beschreibung vom Dekonstruieren als poetischem Schreib- bzw. Lektüreverfahren ließe sich anmerken, dass in der Folge von Jacques Derrida auch von einem erweiterten Textbegriff ausgegangen werden könnte; d.h. für ein dekonstruierendes Schreibverfahren könnte neben einem geschriebenen Text auch die Lektüre einer Gesprächssituation oder einer Häuserfassade zum Ausgangspunkt werden.

30. 03. 10 /// J.S.

anekdotisieren

↓ anekdotisieren ↓

Beim Anekdotisieren geht es darum, eine kleine Geschichte zu erzählen, in der der Charakter oder das Wesen einer Person durch eine scheinbar zufällige Äußerung oder Handlung verdeutlicht wird. Ob oder inwiefern eine derart produzierte Anekdote das geschilderte Ereignis historisch exakt wiedergibt, ist nicht entscheidend: Beim Anekdotisieren wird der Erzählinhalt zwar historisch verortet, ob es sich aber tatsächlich so begeben hat, ist zweitrangig. Wichtig ist allerdings, dass das Erzählte stattgefunden haben kann. Anekdotisieren impliziert daher stets das Herstellen von bzw. das Spiel mit der Wahrscheinlichkeit. Dieses Spiel wird zu einem ironischen Spiel, wenn eigentlich klar ist, dass das Gesagte nicht den Tatsachen entspricht. Gesellschaftlich akzeptiert wird eine Anekdote, wenn die erzählte Begebenheit mit dem vermuteten oder als bekannt vorausgesetzten Charakter der geschilderten Person übereinstimmt.

Anekdotisieren bedeutet Arbeit mit Minimalisierung und Pointierung. Sowohl im Bau des Ganzen wie im Gefüge der Sätze wird Knappheit angestrebt, bei Rede und Dialog bedient sich der Schreibende der gedrängtesten Form. Gelegentliche Längen werden verwendet, um die Haltung der Ironie zu verbergen bzw. zu offenbaren, oder um die ungeduldige Erwartung in Richtung auf den Ausgang zu steigern.

In diesem Sinne wird Beiwerk sparsam verwendet, der Schreibende versucht zu jedem Zeitpunkt, nicht die klaren, sicheren Linien des fortschreitenden Geschehens aus dem Blick zu verlieren. Jedes Element des Texts dient nur der weiterführenden Schilderung des Geschehens, dem fortschreitenden Vordringen zur Pointe. Darin liegt der eigentliche Sinn des Verfahrens, auf sie hin wird geschrieben. Die Pointe der Pointe liegt in der Attraktivität, all das Gesagte auch glauben zu können. Je unwahrscheinlicher dabei die geschilderte Begebenheit ist, desto anspruchsvoller wird die Aufgabe sein, die Begebenheit durch das Verfahren des Anekdotisierens als wahrscheinlich herauszustellen. In der Möglichkeit, Unwahrscheinliches als wahrscheinlich darzustellen, liegt unter anderem das poetische Potential des Verfahrens.

Beim Anekdotisieren wird nur erzählt, was sich zu erzählen lohnt. Anekdotisiert wird, um zu interessieren, zu belegen, oder um einen Erzählinhalt aus seiner primären Oralität herauszulösen, ihn schriftlich wiederzugeben und so festzuhalten. Beim Anekdotisieren wird auf Weitererzählbarkeit geachtet. Dabei bietet es sich an, Erzählinhalte zu verwenden, die das Potential haben, vielen merkwürdig oder lieb zu sein. Anekdotisieren setzt ein intuitives Begreifen zur Charakterisierung einer Person oder Sache voraus. Wer gut anekdotisieren will, muss ebenso gut zuhören wie erzählen können.

26. 03. 10 /// Verena Kaiser

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A. als Erzählform der Geschichtsschreibung: Herodot, Historien (5. Jhdt. a.c.); Heinrich von Kleist, Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege (1810); Reinhard Federmann, Wiener G’Schichten – Geschichte Wiens (1962); Hein (Hg.), Deutsche Anekdoten (1976); Johannes Kunz (Hg.), Am Anfang war die Reblaus. Die zweite Republik in Anekdoten (1987) /// A. als Illustration zum Leben berühmter Persönlichkeiten: Diogenes Laertios, Über Leben und Lehren berühmter Philosophen (3. Jhdt. p.c.); Prokopios von Caesarea, Anekdota (Mitte 6. Jhdt. p.c.); Heinrich Zillich (Hg.), Bekenntnis zu Josef Weinheber (1950); Marie von Ebner-Eschenbach, Erinnerung an Franz Grillparzer (1955); Géza von Cziffra, Die Kuh im Caféhaus (1981) /// A. zur Einsichtgabe in abgeschottete Berufsgruppen: Walther Birkmayer und Gottfried Heindl, Der liebe Gott ist Internist. Der Arzt in der Anekdote (1978); Hans Bankl, Im Rücken steckt das Messer. Geschichten aus der Gerichtsmedizin (2001); Franz Marischka, „Immer nur lächeln“. Geschichten und Anekdoten von Theater und Film (2001); Ulrike Beimpold, Eine Birne namens Beimpold. Anekdoten einer Burgpflanze (2008) /// A. zur Belehrung & Glorifzierung: Johannes Geiler von Kaysersberg (1445 – 1510); Abraham a Sancta Clara (1644 – 1709); Johann Peter Hebel, Kalendergeschichten (1807 – 1827); Wilhelm Schäfer (1868 – 1952) /// A. als Verfahren für Aufzeichnungen von Erinnerungen: Marie von Ebner-Eschenbach, Meine Kinderjahre (1924); Vicki Baum, Es war alles ganz anders (1962); Alexander Roda-Roda, Schummler, Bummler, Rossetummler (1966); Peter Ustinov, Ustionovitäten (1972); Eugen Roth, Erinnerungen eines Vergesslichen (1972); Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch (1975) / Géza von Cziffra, Kauf dir einen bunten Luftballon, Immer waren es die Frauen (1975)

26. 03. 10 /// V.K.

← Forschungsliteratur →

Max Dalitzsch, Studien zur Geschichte der deutschen Anekdote (Diss.), Freiburg 1923 /// Heinz Grothe, Anekdote, Stuttgart 1971 /// Franz-Heinrich Hackel, Zur Sprachkunst Friedrich Torbergs. Parodie – Witz – Anekdote, Frankfurt am Main 1984 /// Sonja Hilzinger, Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1997 /// Albrecht Christoph Kayser, „Ueber den Werth der Anekdoten“, in: Der deutsche Merkur, April 1784, S. 82-86 (erste wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema) /// Hans Lorenzen, Typen deutscher Anekdotenerzählung. Kleist – Hebel – Schäfer (Diss.), Hamburg 1935 /// Volker Weber, Anekdote. Die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie, Tübingen 1993

26. 03. 10 /// V.K.

↑ Postskriptum ↑

Dem Leser mag der Begriff anekdotisieren vielleicht auf den ersten Blick ungewohnt, fremd oder gar seltsam vorkommen. Und das nicht zu Unrecht! Die 24. Auflage des Duden verzeichnet zwar die Begriffe AnekdötchenAnekdoteanekdotenhaft und anekdotisch, führt allerdings kein Verb zu diesem Wortstamm an, wie alle anderen (von mir gesichteten) deskriptiven und präskriptiven Grammatiken wie Lexika.

Glaubt man also solchen Standardwerken, gibt es im Deutschen kein Wort, das den Prozess des Erzählens einer Anekdote in einer Verbalform beschreibt. Gibt man jedoch anekdotisieren bei Google – dem Index für den Sprachgebrauch des Gegenwartsdeutschen – ein, so erhält man Verweise auf unzählbar viele Einträge. Einig über die Verwendung sind sich die Einträge nicht, sondern man merkt spätestens auf Ergebnisseite Drei, dass die „Konsumenten“ dieses Wort situationsbezogen für ihre eigenen Zwecke einsetzen, wobei unter anekdotisieren verschiedenste Vorgänge verstanden werden. Der eine meint das Wiedergeben einer Anekdote, der andere das Erstellen einer Anekdote. Diese oftmalige Verwendung – trotz bestehender Unsicherheit bzw. Unklarheit über das Signatum des Signans – spricht meiner Meinung nach dafür, dass hier eine Leerstelle im Lexikon des Deutschen besteht, die nicht nur gefüllt werden will, sondern auch Überlegungen zum Inhalt dieses Ausdruckes nötig macht.

Ich habe beim Erstellen dieses Artikels das Verb anekdotisieren ausgehend vom Signatum Erzählen einer Anekdote gedacht und dabei versucht offen zu lassen, ob es sich um das erstmalige (schöpferische) Erzählen, das umwandelnde oder originalgetreue Weitererzählen handelt. Denkt man hierarchisch, könnte also das Anekdotisieren als Überbegriff gedacht werden, der der Verwendung des Erzählinhalts entsprechend wiederum in spezifischere Begriffe aufgespalten werden kann.

26. 03. 10 /// V.K.

zitieren

↓ zitieren ↓

Zitieren heißt Innehalten beim Schreiben, um einem gelesenen oder anderswie aufgenommenen Text oder Textausschnitt Einlass in den gegenwärtig geschriebenen Text zu verschaffen. Denkbar ist auch die umgekehrte Bewegung: Gelesenes oder anderswie Aufgenommenes wird eigens gesammelt und behalten, um es später in einem erst noch zu schreibenden Text verwenden zu können. Im Akt des Zitierens treten (mindestens) zwei Texte in Spannung zueinander: ein bereits vorhandener, neu gelesener, und der gerade geschriebene oder erst noch zu schreibende Text. Diese Spannung ist für den Akt des Zitierens konstitutiv. Im Schreiben kann sie unterschiedlich eingesetzt werden. Ein solcher Einsatz steht nicht im Widerspruch zur Annahme, dass unterschwellig jeder Schreibakt – indem dieser prinzipiell aus einer Wiederverwendung bereits bestehender Worte und Buchstaben besteht – zitierend verfährt und umgekehrt jeder Text seine Zitierbarkeit impliziert. Vielmehr liegt der Arbeit mit dieser Spannung diese Annahme gerade zugrunde: Weil Texte grundsätzlich zitierbar sind und neu geschriebene Texte stets auf bereits Geschriebenes rekurrieren, gibt es die Möglichkeit, diese prinzipielle Dimension von Sprache im Schreiben durch spezifische Akte des Zitierens ebenso differenziert zum Einsatz zu bringen.

Bewusst oder unbewusst werden in jedem Akt des Zitierens folgende Entscheidungen getroffen: (Auswahl) Welche Art von Material (Dokumentarisches, Literarisches, Bekanntes, Unbekanntes etc.) wird lesend zitiert? – (Grenze) Welcher Ausschnitt wird aus dem Gelesenen ausgewählt, wo die Grenze gezogen? – (Markierung) Wird das zitierend Gelesene durch Anführungsstriche, Kursivschrift, Sperrung oder dergleichen markiert oder nicht markiert? – (Nachweis) Wird der Kontext, aus dem heraus zitiert wird, durch, bibliographische Hinweise, Quellenangaben, Namensnennung oder dergleichen belegt oder nicht belegt (Dimension des Urheberrechts)? – (Wörtlichkeit) Wird wörtlich, sinngemäß oder gezielt abändernd zitiert (oder belegt)? – Und: (Gestus) In welchem Gestus (affirmativ, kritisch, autoritativ, destruktiv etc.) erfolgt der Akt des Zitierens?

Die Grundspannung, die der Akt des Zitierens erzeugt, lässt sich entsprechend vielfältig modulieren. Das kann mit einer Wirkabsicht im Hinblick auf bestimmte Rezeptionsmöglichkeiten erfolgen, die durch das Zitieren eröffnet oder nahegelegt werden (Absicherung der eigenen Position, Produktion von Geheimwissen, Ausweis von Kennerschaft, Markierung eines Bruchs zum Vergangenen, Suggestion von Kontinuität, Verlebendigung etc.). Dabei bleibt zwar notwendig ungewiss, was von etwaigen Absichten beim Zitieren im schließlich als Zitat vorliegenden Textereignis, das weitere Lektüren provoziert, übrigbleibt. Jede Leserin / jeder Leser wird das Zitat auf ihre / seine Weise wahrnehmen und zum Anlass für weitere Akte des Zitierens nehmen können. Aber festgelegt werden kann im Schreiben doch, was denn überhaupt zitiert wird und in welchem neuen Kontext das Zitierte stehen soll. Zitieren heißt schließlich, die vergangene Zukunft eines Textes als Jetztzeit zu bestimmen und mit der Art der Bestimmung gleichzeitig eine bestimmte Konzeption von Geschichte zu realisieren.

13. 03. 10 /// Redaktionsteam 1

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Z. als schreibendes Verhältnis zur Geschichte: Walter Benjamin, Passagenwerk (1982) /// Z. als Modus der Intertextualität: Julia Kristeva, Zu einer Semiologie der Paragramme (1969) /// Z. als Spezialuntersuchung: Antoine Compagnon, La seconde main ou le travail de la citation (1979) /// Z. als Figur des Gedächtnis: Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man (1986); ders., Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel (1988) /// Z. als Spur in der Rede: Jacques Derrida, „Signatur, Ereignis, Kontext”, in: Randgänge der Philosophie (1988) /// Z. als Excitatio: Jean-François Lyotard, „Emma” (1989) /// Z. in der traditionellen Literaturwissenschaft: Herman Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst (1991)

13. 03. 10 /// R.1

← Forschungsliteratur →

Daniel Baudot (Hrsg.), Redewiedergabe, Redeerwähnung. Formen und Funktionen des Zitierens und Reformulierens im Text, Tübingen 2002 /// Klaus Beekman und Ralf Grüttemeier (Hrsg.), Instrument Zitat. Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, Amsterdam/Atlanta 2000 /// Sibylle Benninghoff-Lühl, Figuren des Zitats, Stuttgart/Weimar 1998 /// Elke Brendel u.a. (Hrsg.), Zitat und Bedeutung. Linguistische Berichte. Sonderheft 15, Hamburg 2007 /// Andrea Gutenberg und Ralph J. Poole (Hrsg.), Zitier-Fähigkeit, Berlin 2002 /// Manfred Harth, Anführung. Ein nicht-sprachliches Mittel der Sprache, Paderborn 2002 /// Renate Lachmann, Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik, in: Das Gespräch, Poetik und Hermeneutik XI, München 1984 /// dies.: Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a. M 1990 /// Bettine Menke, Das Nach-Leben im Zitat, in: A. Haverkamp, R. Lachmann (Hrsg.), Gedächtniskunst. Text und Raum, Frankfurt a. M. 1991 /// Volker Pantenburg und Nils Plath (Hrsg.), Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren, Bielefeld 2002 /// Elena Sciaroni, Das Zitatrecht, Fribourg 1970 /// Jakob Steinbrenner, Zeichen über Zeichen. Grundlagen einer Theorie der Metabezugnahme, Heidelberg 2004 /// http://www.zitatundbedeutung.uni-mainz.de (letzter Aufruf am 28.12.2008)

13. 03. 10 /// R.1